Engel der Verdammten
in den Tempel zurückzukehren zu meinem Festmahl, denn dann klärt sich der Nebel. Weißt du, wodurch?‹
›Nein, aber ich kann es erraten ... weil die Priester dich sehen können, weil die mächtigen Seher dich sehen können.‹
›Genau so ist es, Asrael, ich kann mich Hexen und Zauberern sichtbar, begreifbar machen, denen, die die Gabe des Sehens haben, und wenn ich die Trankopfer aufnehme, sie inhaliere und den Duft der Speisen inhaliere, dann gibt mir das wieder Lust am Leben. Dann begebe ich mich in die Statue und ruhe in deren Dunkelheit; die Zeit bedeutet mir nichts mehr, und ich lausche dem geschäftigen Babylon. Ich lausche, lausche ...
Doch die Mythen meines Ursprungs? Ich kann mich nicht an sie erinnern. Du weißt, was ich damit meine?‹
›Nicht so ganz‹, gab ich zu. ›Willst du andeuten, dass du kein Gott bist?‹
›Nein, das nicht. Ich bin ein Gott und ein sehr mächtiger dazu.
Setzte ich meinen Willen ein, könnte ich diesen Marktplatz, diesen Park im Augenblick mit einem einzigen gewaltigen Windstoß leer fegen. Nichts ist einfacher als das. Doch was ich sagen will, ist, dass Götter nicht allwissend sind, und diese Sage, wie Marduk der Erste der Götter wurde, wie er Tiamat erschlug, wie er den himmelstürmenden Turm erbaute ... nun, entweder habe ich sie schon vor langer Zeit vergessen, oder meine Kräfte lassen langsam nach, und ich kann mich deshalb nicht an sie erinnern. Götter können sterben. Sie können einfach vergehen. Genau wie Könige. Sie können in Schlaf sinken, und dann ist es schwer, sie wieder aufzuwecken. Und wenn ich erwache und hellwach und lebendig bin, dann liebe ich Babylon, und Babylon erwidert diese Liebe.‹
›Sieh, mein Herr‹, sagte ich zu ihm. ›Du bist erschöpft, weil das Neujahrsfest seit zehn Jahren nicht mehr abgehalten wurde, weil unser König Nabonidus dich und deine Priester vernachlässigt hat. Das ist alles. Wenn wir diesen konfusen alten Idioten dazu bringen könnten, heimzukommen und das Neujahrsfest zu feiern, würdest du dich wieder aufraffen. Der Anblick all der Babylonier, die dich die Prozessionsstraße entlangschreiten sähen, würde dir neues Leben einhauchen.‹
›Das ist eine hübsche Idee, Asrael, die eine gewisse Wahrheit enthält, doch ich hege keine Liebe für das Neujahrsfest, ich bin nicht angetan davon, in dem Standbild zu sitzen und mit dem König Händchen zu halten. Immer wieder gerate ich mitten in der Zeremonie in Versuchung, den König niederzu-schlagen und fortzustoßen, sodass er auf der Prozessionsstraße landet, direkt in der Gosse. Verstehst du nicht? Es ist nicht das, was sie dir einreden wollen! Bestimmt nicht!‹
Er verstummte mit einer Geste, die mir bedeutete, ich möge mir das durch den Kopf gehen lassen, und dann sagte er, er wolle etwas versuchen. Die nächsten Augenblicke sollten einen entscheidenden Einfluss auf mich in meiner zukünftigen Existenz als ein Geist haben, aber das konnte ich damals nicht wissen.
Denn Marduk sagte: ›Asrael, mach bitte Folgendes. Schau mich an, streife mir in deinem Geiste all dieses Gold ab, stell dir vor, ich sei ebenso rosig und lebendig wie du selbst, mit schwarzen Haaren und braunen Augen, und dann greife nach mir und berühre mich mit deinen beiden Händen. Befreie den Gott von seinen goldenen Fesseln. Versuche es.‹
Ich zitterte.
›Was ängstigst du dich so sehr! Einen Edlen in feinster Kleidung wird man dir gegenüber sitzen sehen, sonst nichts.‹
›Ich habe Angst, weil es funktionieren könnte, mein Herr‹, er-klärte ich, ›und mir ist ein Besorgnis erregender Gedanke gekommen. Du willst entkommen, Marduk. Du willst fort. Und wenn das hier funktioniert, wenn meine Augen, meine Berührung dir einen sichtbaren Körper verschaffen können, dann kannst du entkommen, nicht wahr?‹
›Und warum zum Teufel sollte das einen Sohn Jahwes erschrecken?‹ Er holte tief Luft. ›Tut mir Leid, dass ich ärgerlich auf dich war. Ich liebe dich weit mehr als all meine anderen Anbeter und Untertanen. Ich werde Babylon nicht im Stich lassen. Ich werde hier sein, solange Babylon mich braucht. Ich werde noch hier sein, wenn der Sand uns einst alle bedeckt.
Dann erst werde ich vielleicht entkommen. Aber ja, du hast Recht, es würde mir die Freiheit schenken. Es würde mich lehren, dass ich, obwohl ich ein Gott bin, doch in einen sichtbaren, menschlichen Körper schlüpfen und umhergehen könn-te. Es würde mich lehren, welche Möglichkeiten mir offen stehen, verstehst
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