Engel der Verdammten
gern im Tempel umher. Ich brachte Botschaften zu den Priestern; wenn Belsazar speiste, wartete ich bei Tisch auf, und ich freundete mich sozusagen allgemein mit den Leuten im Palast an, mit den Eunuchen, den Tempelsklaven, mit anderen Pagen und auch mit der einen oder anderen der Tempelhuren, die naturgemäß alle sehr schöne Frauen waren.
Nun hatte meine Arbeit im Tempel und im Palast auch einen babylonischen Aspekt. Die Regierung verfolgte eine vernünftige Politik. Sie nahm wohlhabende Geiseln, Deportierte wie uns, nicht nur, um die Kultur der Stadt zu bereichern, sondern es wurden auch immer junge Männer wie ich ausgewählt, die man die babylonische Lebensart lehrte. Das hatte Gründe.
Wenn man uns nämlich in unsere Heimat entließ oder auch in eine entfernte Provinz sandte, waren wir durch diese Erziehung gute Babylonier, das heißt, geschulte, zuverlässige Leute im Dienste des Königs.
Am Hofe gab es jede Menge Hebräer.
Das änderte aber nichts daran, dass einige unserer Onkel sich maßlos aufregten, weil mein Vater und ich im Tempel arbeiteten, doch wir beide pflegten nur mit den Schultern zu zucken und zu sagen: ›Wir beten Marduk nicht an. Wir essen nicht zusammen mit den Babyloniern. Wir essen auch nicht von den Speisen, die den Götterbildern vorgesetzt worden sind.‹ Und die gleiche Ansicht hatte ein Großteil unserer Gemeinde.
Zu der Sache mit den Speisen lass mich etwas anmerken. Für Hebräer ist das auch heute noch wichtig. Oder? Man speist nicht gemeinsam mit den Heiden. Und das war damals auch so. Und man aß auf keinen Fall etwas, das zuvor einem Götzenbild vorgesetzt worden war. Das war von großer Bedeutung.
Als gute Hebräer brachen wir das Brot nur mit unseresglei-chen, und wir wuschen uns stets sorgfältig, dem Ritual gemäß, unter Gebeten die Hände, ehe wir die Speisen zu uns nahmen, und es gab nichts in unserem Leben, das nicht durchdrungen war von unserem Wunsch, Jahwe, den Herrn der Heerscharen, zu preisen.
Aber wir mussten auch überleben in Babylon. Unser ganzes Streben war darauf gerichtet, einst reich in unser Heimatland zurückzukehren. Also mussten wir stark sein. Und für einen Hebräer bedeutete das damals das Gleiche wie heute: Man musste die Kraft haben, sich anzupassen, ohne sich selbst zu verlieren.«
Wieder kam eine seiner obligatorischen Pausen. Er beugte sich vor und schürte das Feuer, wie man es macht, wenn man eine Denkpause braucht und gleichzeitig beschäftigt sein möchte. Da hilft es, im Feuer zu stochern, besonders, wenn man gerade kein Getränk zur Hand hat; ich wenigstens hatte meinen Kaffeebecher, den ich umklammerte, als sei das für mich die wichtigste Beschäftigung der Welt.
»Du sahst damals genauso aus wie jetzt, nicht wahr?« Die Frage hatte ich ihm schon einmal gestellt. Es war eine Art rhe-torischer Trick und sollte ihm signalisieren: Gott gab dir genau die richtigen Gaben mit, junger Mann.
»Ja«, gab er zu. »Jetzt, im Augenblick, wollte ich allerdings keinen Bart tragen, das sagte ich dir, glaube ich, vorhin schon.
Doch das scheint mir wohl nicht gegeben.
Ich erschien als mein altes Selbst; und ich weiß immer noch nicht, wer mich gerufen hat. Warum gerade jetzt? Warum hat sich mein ursprünglicher Körper wieder um mich herum zusammengefügt? Warum? Ich weiß es nicht.
Wenn ich in der Vergangenheit von einem Magier heraufbeschworen wurde, gestaltete ich mein Äußeres nach seinem Willen, und daraus ergab sich manches Mal ein ganz entsetzlicher Anblick. Selten, wenn überhaupt, warteten sie auch nur einen Atemzug lang, um meine eigentliche Gestalt zu sehen.
Man pflegte mich auf eine ganz bestimmte Weise zu beschwö-
ren: ›Asrael, Hüter der Goldenen Gebeine, die ich hier in Händen halte, erscheine in einem Feuersturm, und verzehre meine Feinde, dass sie zu Asche werden.‹ So oder ähnlich lauteten die Zaubersprüche.
Aber wie auch immer, um deine Frage zu beantworten: Als ich starb, sah ich wirklich ganz genauso aus wie heute, bis auf ein hervorstechendes Merkmal, das man meinem Körper hinzufügte, ehe man mich ermordete, doch das will ich später er-zählen. Ich sehe heute so aus wie in meiner Sterbestunde.«
»Wie war das mit deinem Vater? Warum war es ein Fehler, ihm von Marduk zu erzählen? Wieso? Was hat das zu bedeuten? Was tat er dir an, Asrael?«
Er schüttelte den Kopf. »Davon zu sprechen fällt mir am schwersten, Jonathan Ben Isaak; weißt du, ich habe es noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal einem meiner
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