Engel der Verdammten
als der Nabel der Welt gelte. Sie waren sichtlich verdutzt und begannen untereinander zu streiten, und dann zeigten sie alle so ziemlich in die gleiche Richtung, nach Norden, doch keiner von ihnen wusste es genauer, und niemand hatte den Berg je gesehen.
›Mach dich unsichtbar, erhebe dich mit mir in die Luft, fort von denen. Überlass sie ihrer Verwirrung. Sie können uns nichts antun, also soll uns gleichgültig sein, was sie zu sehen bekommen.‹
Und wieder bewegten wir uns nordwärts. Der eisige Wind war für Zurvan unerträglich geworden. Ich wusste nicht, wie ich ihn noch besser davor hätte schützen können, ich hatte Felle herbeibefohlen, um ihn darin einzuwickeln, und hatte meine Körperwärme verstärkt, bis es ihn schmerzte. Da hatte ich wohl etwas übertrieben.
›Meru‹, murmelte er. ›Meru.‹
Aber damit war kein Hinweis auf die Richtung verbunden, und ganz plötzlich sagte er: ›Asrael, bringe mich heim, so schnell du kannst.‹
Ein durchdringendes Dröhnen begleitete meine Beschleuni-gung, und die Landschaft explodierte buchstäblich in blendendem Weiß. Mir schien, dass Geisterwesen vor uns in alle Himmelsrichtungen flohen und, wie durch unsere Stärke von ihrem Kurs abgedrängt, hinter uns zurückblieben. Das Gelb der Wüste überschwemmte mein Blickfeld, und dann, endlich, war da wieder die Stadt Milet. Wir waren in Zurvans Haus, ich trug ihn eigenhändig mitsamt seinen Hüllen zum Bett, auf das ich ihn niederlegte.
Seine kleinen Hausgeister standen und staunten.
›Essen und trinken‹, sagte er zu ihnen, und sie huschten eilig davon, ihm zu gehorchen. Sie brachten ihm eine Schale Suppe und einen goldenen, weingefüllten Becher. Der Becher war griechischen Ursprungs und sehr schön, wie alle griechischen Arbeiten damals, denn sie waren eindeutig graziöser und weniger streng geformt als morgenländische Gegenstände.
Ich aber fürchtete um Zurvan. Er lag dort, völlig durchfroren schien mir, deshalb legte ich mich über ihn, um ihm von meiner Wärme abzugeben; ich wickelte mich förmlich um ihn, hielt ihn ganz fest, bis er endlich Farbe bekam, die blauen Augen weit öffnete und wieder etwas lebendiger aussah. Da ließ ich von ihm ab und deckte ihn mit seinem Bettzeug zu.
Seine kleine Geisterschar half ihm, sich aufzusetzen, führte sogar den Löffel an seine Lippen und auch den Becher.
Ich saß am Fußende des Bettes. Ich brauchte keine Brühe, und das gab mir ein Gefühl von Stolz. Von Befreiung. Ich fühl-te mich auch sehr stark. Nach langer Zeit sah Zurvan mich an.
›Das hast du gut gemacht‹, sagte er. ›Sogar erstaunlich gut.‹
›Aber ich habe den Berg nicht gefunden.‹
Er lachte. ›Und wirst ihn wohl auch nie finden, so wenig wie ich oder sonst irgendjemand.‹ Er scheuchte die anderen mit einem Bannwort aus dem Raum, und sie flohen wie Sklaven.
›Jeder Mensch trägt einen ihm heiligen Mythos tief in sich, irgendeine alte Geschichte, die er vor langer Zeit hörte und die für ihn eine heilige Wahrheit ist oder auch nur eine verführerische Schönheit enthält. So ging es mir mit diesem heiligen Berg. Also nutzte ich deine Fähigkeiten, um zum höchsten Gipfel der Welt zu reisen, nur um zu sehen, dass Meru nicht existiert, wie ich es mir dachte, sondern nur eine Vorstellung, eine Idee, ein Ideal ist.‹
Er legte eine Pause ein, und die verwunderte Miene zeigte sich wieder auf seinem Gesicht und wischte die etwaige Enttäuschung und die Strapazen aus. Als er mich anschaute, schienen seine Augen freudig aufzuleuchten.
›Was hast du gelernt auf dieser Reise, Asrael? Was hast du erfahren?‹
Zuallererst einmal, dass ich so etwas überhaupt vollbringen kann‹, antwortete ich. Dann erzählte ich ihm, was ich alles gesehen hatte und dass die Städte tief unter uns mir vorgekommen waren wie Fallen, mit denen man die Götter des Himmels auf die Erde hinablocken wollte.
Das belustigte ihn, ließ ihn aber auch interessiert aufhorchen.
›Die Städte schienen mir von vornherein so angelegt, dass sie die Aufmerksamkeit der Götter erregen müssen, dass sie die Götter so weit bringen, ihre ätherischen Höhen zu verlassen und auf die Erde hinunterzukommen, wie etwa zu dem Tempel Marduks. Das, was für dich der Berg war! Die Städte tupfen die Erde wie einladend geöffnete Hände, oder vielleicht ist das der falsche Ausdruck, sie gleichen eher fantastischen Schleu-sen zur Welt - das richtige Wort ist Tore -, ah, ich bin sicher, die Bezeichnung würde den Priestern
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