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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Jahrhunderten endlich wieder all dessen erinnern kann, erzeugt in mir ein überquellendes Glücksgefühl. Mein Gott, endlich diese Erinnerungsfetzen in einen Zusammenhang bringen zu können, zu wissen, dass ich lebendig und auch wieder nicht lebendig gewesen bin, das ist... das ist nicht nur die Erhörung meiner Gebete, das ist... das ist höchste Gnade.«
    Ich flocht nur kurz ein, dass ich das gut verstehen könne, denn ich wartete ungeduldig darauf, dass er fortfahren möge.
    »Da Zurvan mich auf meinen Rundgang entlassen hatte, damit ich in meiner menschlichen Gestalt die Stadt erkunden konnte, kehrte ich auch erst wieder zu ihm zurück, als er mich rief, was erst gegen Mitternacht oder noch später war. Bis dahin hatte ich einen großen Strauß ausgesprochen schöner Blumen gesammelt; nicht eine davon glich der anderen. Ich stellte sie in eine Vase auf seinem Schreibtisch.
    Dann ließ er mich genau erzählen, was ich gesehen und getan hatte. Ich beschrieb ihm jede Straße Milets, durch die ich gestreift war, ich erwähnte, dass ich mich an sein Verbot gehalten hatte, nicht durch feste Wände zu gehen, so sehr es mich auch verlockt hatte, und dass ich lange Zeit die Schiffe im Hafen betrachtet und den verschiedenen Sprachen gelauscht hatte, die dort zu hören waren. Ich sagte ihm, dass ich von Zeit zu Zeit Durst verspürt und dann an einem Brunnen getrunken hatte, obwohl ich mir nicht sicher war, welche Auswirkungen es haben könnte; doch das Wasser hatte meinen Körper gefüllt, nicht mittels innerer Organe, die ich ja nicht besaß, sondern jede einzelne Fiber durch und durch saugte sich voll.
    Er hörte sich das alles an und sagte: ›Wie schätzt du das alles ein, was du gesehen hast, wie beurteilst du das alles? Sage es mit deinen eigenen Worten.‹
    ›Großartig‹, antwortete ich achselzuckend. ›Tempel von unglaublicher Schönheit. Marmor, überall Marmor. Die Menschen hier stammen aus allen möglichen Ländern. Ich habe nie zuvor so viele Griechen gesehen; ich stand neben einer Gruppe athenischer Bürger, die sich um philosophische Dinge stritten; das fand ich sehr erheiternd, ich genoss es zuzusehen. Und natürlich ging ich auch zum persischen Hof, wo man mir Zutritt zum Tempel und zum Palast gestattete, sicherlich wegen meiner Kleidung und meines Gebarens, und ich schlenderte in dieser neu errichteten Feste meiner früheren Welt umher, dann ging ich weiter zu den Tempeln der griechischen Götter.
    Deren offene Anlagen, die in blendendem Weiß erstrahlen, gefielen mir ebenso gut wie das Verhalten der Griechen insgesamt. Sie schienen mir übrigens verschiedener von uns Babyloniern zu sein, als ich je geglaubt hätte.‹

›Aber‹, fragte er, ›brennst du nicht darauf, mir etwas ganz Spezielles zu erzählen, irgendetwas, das dich besonders zornig oder bekümmert gemacht hat?‹
    ›Ich möchte dich ungern enttäuschen, aber mir fällt nichts ein.
    Überall erblickte ich Glanz und Größe. Schon allein die Farben der Blumen! Sieh doch nur! Hin und wieder war da wohl eine Geisterscheinung, doch wenn ich sozusagen die Augen davor verschloss, blieb einzig die helle, lebendige Welt. Mich gelü-
    stete nach manchen Dingen, nach Edelsteinen zum Beispiel, und ich wusste, ich hätte sie in meiner Gestalt leicht stehlen können. Ich fand tatsächlich auch einen netten Trick heraus.
    Ich konnte den Schmuck zu mir befehlen, wenn ich nahe genug davor stand und meinen ganzen Willen darauf verwandte.
    Aber ich legte zurück, was ich nahm. Und ich fand Geld in meinen Taschen. Gold. Ich weiß nicht, wie es dahin kam.‹
    ›Ich habe es dort hineingetan‹, sagte er. ›Gibt es sonst etwas?
    Spürtest oder bemerktest du sonst etwas?‹
    ›Weißt du, diese Griechen‹, sagte ich, ›sie sind genauso praktisch veranlagt wie mein Volk ... wer immer zur Hölle auch mein Volk gewesen sein mag ... doch sie verfolgen ethische Prinzipien, die nicht an die Verehrung eines Gottes geknüpft sind, es geht nicht nur um Gebote, wie die Armen nicht zu be-drängen und die Schwachen zu unterstützen, alles um der Ehre der Götter willen, sondern darüber hinausgehend um die Bekräftigung von etwas ... das ... das ...‹
    ›Abstrakt ist‹, sagte Zurvan, ›nicht greifbar und losgelöst von reinem Eigennutz.‹
    ›Ja, das meinte ich. Ihre Gesetze beziehen sich auf ein Verhalten, das nicht religiös geprägt ist, das ist es. Ihr Gewissen ist deshalb jedoch nicht stärker ausgeprägt als bei anderen. Sie können durchaus grausam sein.

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