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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wartenden Geisterwesen da. Doch dann drang ganz deutlich eine Stimme an mein Ohr: ›Ich befahl dir, zur agora zu kommen, in die Schenke. Wo bist du?‹
    Das war natürlich Zurvans Stimme.
    ›Muss ich dir erst eine Skizze machen?‹, fragte die Stimme.
    ›Erinnerst du dich nicht an meinen Befehl? Nun mach dich auf den Weg zu mir, vorwärts! Du wirst mich finden, und lass dich nicht weiter ablenken, ob von Lebenden oder Toten.‹
    Ich war bedrückt und ängstlich, weil ich seinen Worten nicht sofort gefolgt war, doch an seinen Befehl erinnerte ich mich natürlich, mühte mich auch, mir den vergangenen Morgen ins Gedächtnis zurückzurufen; eilig verließ ich das Haus und trat hinaus auf die Straße.
    Nun spazierte ich zum ersten Mal durch das griechische Milet, eine wunderschöne, großzügig angelegte Stadt mit Gebäuden aus Marmor und weiträumigen öffentlichen Plätzen. Die frische Seeluft strich darüber hin, und die Wolken reflektierten das gleißende Licht des Meeres. Ich ging stetig dahin, begutachtete die kleinen Läden und Stände, die Privathäuser und Brunnen und die schmalen, in die Wände eingelassenen Altäre, bis ich zu einem großen, offenen Marktplatz kam, der von allen Seiten von den Verkaufsräumen des Bazars umgeben war.
    Hier fand ich die Schenke mit ihrem schneeweißen Sonnensegel, das sich in der leichten Brise bauschte, und drinnen saß Zurvan. Ich ging hinein und stellte mich vor ihn hin.
    ›Setz dich‹, sagte er. ›Sag mir, warum du die Haustür geöffnet hast, anstatt einfach mitten hindurchzugehen.‹
    ›Ich wusste nicht, dass ich das kann. Ich hatte einen Körper.
    Du sagtest, ich solle in menschlicher Gestalt kommen. Habe ich dich erzürnt? Die Geister haben mich abgelenkt. Sie waren überall, und ein solches Schauspiel hatte ich noch nie zuvor zu Gesicht bekommen...‹
    ›Still, ich wollte nicht alle deine Gedanken wissen, ich habe dich nur gefragt, warum du nicht durch die geschlossene Tür hindurchschrittest. Du kannst das, selbst wenn du dir einen ganz soliden Körper geschaffen hast. Du kannst hindurchge-hen, weil das, was deinen Körper ausmacht, nicht aus der gleichen Substanz besteht wie die Tür. Verstehst du? Nun, löse dich auf, und erscheine dann wieder hier. Niemand wird es bemerken. Die Schenke ist halb leer. Ans Werk.‹

    Ich gehorchte ihm. Eine heitere Leichtigkeit durchflutete mich, als ob ich lachend meine Glieder gestreckt und dann wieder feste Form angenommen hätte.
    Zurvans Gesicht zeigte nun eine wesentlich freundlichere Miene, und er wollte wissen, was ich gesehen hatte. Als ich ihm berichtet hatte, fragte er: ›Du konntest schon Geister wahrnehmen, als du noch ein lebendiger Mensch warst, nicht wahr? Schnell, antworte, ohne zu überlegen oder in deinem Gedächtnis zu kramen.‹
    ›Ja‹, gab ich zu. Das war schmerzlich für mich, und mir fiel auch nichts Konkretes dazu ein. Das wollte ich auch nicht. Ich hatte ein Gefühl von Verrat und Hass.
    ›Ich wusste es‹, seufzte Zurvan. ›Kyros schrieb etwas in der Art, doch er deutete es nur vage an und war so diplomatisch in seiner Wortwahl, dass ich unmöglich sicher sein konnte. Kyros hegt eine besondere Liebe für dich, und er fühlt sich dir verpflichtet. Komm nun, wir begeben uns nun besser in das Reich der Geister, damit du weißt, was es damit auf sich hat. Doch zuerst hör mir zu: Jeder Magier, der dir begegnen wird, wird eine andere Vorstellung von der Welt der Geister haben, eine andere Sichtweise dessen, was Geister sind und warum sie sich in einer bestimmten Weise verhalten. Doch vom Grundsatz her ist, was du auf einem Ausflug in die Geisterwelt siehst, immer das Gleiche.‹
    ›Du willst etwas Wein, Herr?‹, fragte ich. ›Dein Becher ist leer.‹
    ›Wie kommst du dazu, mich mit so einer Frage zu unterbrechen?‹
    ›Du bist durstig‹, sagte ich, ›das weiß ich einfach.‹
    ›Was soll ich nur mit dir machen? Wie kann ich dich nur dazu bringen, mir Aufmerksamkeit zu schenken?‹
    Ich wandte mich um und winkte dem Jungen, der den Wein ausschenkte; er eilte herbei, füllte den Becher meines Gebieters und fragte auch nach meinen Wünschen, dabei behandelte er mich mit großer Ehrerbietung, mit noch mehr, als er meinem Lehrer erwiesen hatte. Ich merkte, dass das mein förmliches babylonisches Gewand machte, diese Zurschaustellung von edlen Steinen und Stickereien und meine strenge Haar- und Barttracht.

    Ich verneinte, traurig, weil ich ihm kein Geld geben konnte, doch dann sah ich einige

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