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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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während ich schaute, drängten sich andere, wüste Geister vor, die, vor- und zurückspringend, unter gräßlichen Verrenkungen Fratzen schnitten, als wollten sie mir etwas antun. Dabei schüttelten sie die Fäuste und versuchten, mich zu einem Kampf aufzustacheln.
    Dieses Bild gewann eine unglaubliche Intensität. Ich sah das Sonnensegel der Schenke nicht mehr, auch der Boden unter meinen Füßen und die gegenüberliegenden Gebäude waren verschwunden. Ich befand mich auf einer Ebene, die gänzlich diesen Kreaturen gehörte. Etwas Warmes, Lebendiges berühr-te mich - Zurvans Hand.
    ›Mache dich unsichtbar‹, sagte er, ›und umhülle mich vollständig, halte mich, so fest du kannst, und nimm mich mit dir hinauf in die Luft und fort von hier. Ich muss in meinem Körper bleiben, das lässt sich nicht ändern, aber du wirst mich in einen schützenden Mantel aus Unsichtbarkeit kleiden.‹
    Ich wandte mich ihm zu, und für mich strahlte er nun in den schillernden Farben des lebendigen Fleisches. Ich tat, was er gesagt hatte, vergrößerte und verlängerte meine Gestalt samt all ihren Gliedern, bis ich Zurvan darin eingeschlossen hatte, und dann machte ich mich fort aus der Schenke und stieg zum Firmament hinauf. Ich zwängte mich zwischen dicht an dicht stehenden Geistern und verdutzten Dämonen hindurch, die zischend und fauchend nach uns greifen wollten. Doch ich schüttelte sie ab.
    Wir flogen hoch über die Stadt hinaus. Wie beim ersten Mal sah ich unter mir diese schöne Halbinsel, die sich in die blaue See hinausschob, sah die ankernden Schiffe mit ihren verschiedenen Flaggen und Männer in fieberhafter Tätigkeit, die anscheinend sinnlose, aber zweifellos alltägliche Arbeiten ver-richteten.
    ›Bringe mich hinauf in die Berge‹, sagte mein Meister, ›bringe mich zu dem höchsten Berg der Welt, weit fort von hier, zu dem Berg, von dem die Götter kommen, um den sich die Sonne dreht, bringe mich zu dem Berg namens Meru.‹
    Wir flogen über die Wüste und über Babylonien hinweg, dessen verstreute Städte mir wie Blumen oder wie Fallen erschienen. Ja, wie Fallen wirkten sie auf mich. Fallen, errichtet, um die Götter hineinzulocken, so, wie Blumen eine Falle für die Bienen sind.
    ›Flieg nach Norden‹, sagte Zurvan. ›Weit nach Norden, hülle mich zuerst in wärmende Decken, und halte mich gut fest.
    Bewege dich so schnell vorwärts, bis du mich schreien hörst, weil ich es nicht mehr aushalten kann.‹
    Ich gehorchte, mummelte ihn in feinste Wolle ein, wobei ich schon den Weg nach Norden eingeschlagen hatte. Bald waren unter uns nur noch Berge mit schneebedeckten Gipfeln zu sehen und spärlich verstreute Felder, verschneit und leer.
    Herden grasten dort unten, dazwischen Männer auf Pferden, dann folgten abermals Berge.
    ›Meru‹, verlangte Zurvan, ›finde Meru.‹
    Ich richtete mein ganzes Bemühen darauf, jedoch ohne Erfolg.
    ›Ich finde nichts, was Meru sein könnte‹, sagte ich.
    ›Dachte ich es mir doch! Lass uns unten in dem Tal niedergehen, dort, wo die Pferde sind.‹
    Das tat ich. Immer noch hüllten ihn die warmen Decken ebenso wie meine Unsichtbarkeit ein, wobei mir angenehm auffiel, dass ich so meine Wange dicht an die seine schmiegen konnte.
    ›Das ist eine alte Geschichte, dieser Mythos von dem großen Berg‹, sagte er. ›Die Sage von diesem Berg hat schon die alten, längst vergangenen Völker, die nur vage Erinnerungen daran hegten, zur Errichtung von Zikkurats und Pyramiden inspiriert und zum Bau ihrer himmelhoch aufragenden Tempel.
    Nun lass mich los, Asrael. Schaffe dir einen sichtbaren Körper, und bewaffne dich gegen diese Steppenkrieger. Sorge dafür, dass sie mir nichts antun, und töte sie, wenn sie es versuchen.‹
    Als ich ihn losließ, zitterte er trotz seiner Wolldecken. Nur ein paar Hirten hatten uns gesehen, sie flohen vor uns zu den bewaffneten Reitern, von denen etwa sechs als eine Art Wache über die Ebene verstreut waren. Der Schnee ringsum bot einen herrlichen Anblick, doch ich wusste, dass er kalt war, ich konnte seine Kälte spüren, deshalb legte ich meine nun menschlich warmen Arme um Zurvan, und er schien sofort die tröstliche Wärme zu spüren.
    Inzwischen waren die sechs Reiter herangekommen, ver-dreckte Steppenbewohner, die noch stärker rochen als ihre Pferde. Sie bildeten einen Kreis um uns. Mein Gebieter rief ihnen etwas in einer Sprache zu, die ich noch nie gehört hatte, aber dennoch verstehen konnte. Er fragte sie, wo der Berg zu finden sei, der

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