Engel der Vergessenen
Lauf lassen konnte. Das war eine große Vertrauensstellung, frei von äußeren Belästigungen; nur ab und zu kontrollierten ›Inspektoren‹ von Donu Taikky und der ›Gesellschaft‹ das ›Haus der sieben Sünden‹ und sahen Bao Yin bei der Arbeit zu. Sie lobten ihn, richteten herzliche Grüße von Taikky aus und verließen immer sehr bald das geschmackvoll eingerichtete Haus.
An diesem Abend versetzte man Bao Yin wieder in den Außendienst. Er hatte als Straßenräuber angefangen, hatte nach zweimaliger Zuchthausstrafe den Wert von toten Zeugen begriffen und wurde darauf der ›große Stillmacher‹, wie man ihn poetisch nannte. Er mordete sich durch die Lande, bis Taikky ihn aufgriff. Bao Yin blieb damals keine Wahl: Entweder sagte er zu, oder er wurde selbst auf angespitzte Bambusstangen gespießt. Da er das Unangenehme dieser Ruhelage sehr genau kannte, unterschrieb er einen Anstellungsvertrag.
Er hatte es nie bereut. Er lebte gut, sparte wie ein braver Bürger auf der Staatsbank von Birma und träumte von einem geruhsamen Alter in einem schönen Haus, umgeben von einem blühenden Garten mit plätschernden Springbrunnen. Taikky sah er nur dreimal in all den Jahren, und er war froh, daß diese Begegnungen schnell vorbeigegangen waren. Der fette Kerl mit der Fistelstimme, mit den Wurstfingern und den kalten Krokodilaugen war ihm unheimlich.
So zögerte er auch nicht, als er von der Zentrale der ›Gesellschaft‹ in Rangun im ›Haus der sieben Sünden‹ angerufen wurde: »Kümmere dich um Dr. Haller. Er wohnt im Hotel von Chin-hao-Chin.«
Bao Yin wetzte einen kurzen, dünnen Dolch, probierte an einer Puppe das blitzschnelle Überstreifen einer Stahlschnur um einen Hals und übte Handkantenschläge gegen die Halsschlagader. Dafür standen ihm zwei lebende Opfer zur Verfügung – zwei kleine Geschäftsleute aus Rangun, die geglaubt hatten, ihren Monatsbeitrag an die ›Gesellschaft‹ vergessen zu können.
Die beiden Birmesen fielen wie Klötze um, als Bao Yins Handkante sie traf.
Bao Yin war zufrieden mit sich. Dr. Haller durfte kein Problem bedeuten.
Aber, wie gesagt, auch so versierte Mörder wie Bao Yin haben einmal Pech. Taikkys Henker scheiterte an Chin-hao-Chin.
Wenn jemand vierzig Jahre in Rangun lebt, in Hongkong geboren ist und dort seine Jugend in den Slums verbracht hat, dann hat er ein Auge für alle menschlichen Unebenheiten. So betrachtete Chin-hao-Chin auch sehr kritisch den gut gekleideten und vornehm zurückhaltenden Gast, der gegen 21 Uhr das Restaurant des ›Roten Drachen‹ betrat, seine Aktentasche mit an den Tisch nahm und neben seinem rechten Fuß abstellte. Er bestellte eine Trepangsuppe, Huhn auf Nangking-Art und zum Nachtisch einen Tee mit Rosenblättern.
Das war alles normal, nur die Aktentasche störte Chin-hao-Chin. Und als Bao Yin ganz beiläufig fragte: »Sagen Sie, in Ihrem Haus wohnt doch der Arzt, der für 10 Kyat Kranke behandelt?«, ahnte der Dicke, daß etwas Gefährliches in seinem Lokal saß.
Er antwortete: »Doktor ist zu Krankenbesuch …« und zog sich in das private Hinterzimmer zurück. Dort saß Siri und wartete auf Dr. Haller. Er hatte vom Ministerium aus angerufen, daß es spät werden könne; prominente Patienten, die offiziell nicht krank sein dürften, wollten untersucht werden, es sei alles in Ordnung, man brauche sich keine Sorgen um ihn zu machen.
»Merkwürdiger Mann sitzt in Lokal!« sagte Chin-hao-Chin. Er schwitzte vor Aufregung und sprach englisch, ohne daran zu denken, daß Siri eine Birmesin war. »Fragt nach Doktor! Sieht aus wie große Gauner! Kenne diese Gesichter! Ich werde aufpassen!«
Aber als Chin-hao-Chin in das Restaurant zurückkam, war Bao Yin schon gegangen. Er hatte bei einem der Kellner bezahlt, ein gutes Trinkgeld hinterlassen und seine Aktentasche unter den Arm geklemmt.
Ein Irrtum, dachte Chin-hao-Chin. Das kann vorkommen, obgleich er sich bisher noch nie bei der Einschätzung von Menschen geirrt hatte. Er trank trotz Verbots von Dr. Haller schnell zwei Schnäpse, und dabei kam ihm der Gedanke, einmal im Zimmer des Doktors nach dem Rechten zu sehen.
»War Erleuchtung!« gab er später zu Protokoll.
Chin-hao-Chin ging leise die Treppe hinauf und sah schon von unten ein schnelles, huschendes Licht unter der Türritze. Es sah aus, als schleiche jemand mit einer abgeblendeten Taschenlampe in Dr. Hallers Zimmer umher. Dann erlosch das Licht, Chin-hao-Chin lehnte sich gegen die Wand des Treppenhauses und
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