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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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konnte.
    »Danke«, sagte Dr. Haller lächelnd. »Aber das war ein Fehler, Herr Kollege. Ein Reisbauer – und als solcher stehen Sie vor mir – legt sich nicht auf den Tisch, nur weil er Schmerzen im Unterbauch hat. Er ahnt ja nicht, was es sein könnte. Springen Sie vom Tischchen, mein Lieber. Die Untersuchung ist beendet.«
    Der Birmese setzte sich, ließ die Beine vom Tisch herunterbaumeln und lächelte böse zurück. Siri kümmerte sich um den Sterilisator und bereitete einige Penicillinspritzen vor.
    »Sie haben Feinde«, sagte der birmesische Arzt auf englisch.
    »Ich weiß, Kollege. Deshalb sind Sie ja hier.«
    »Sie haben die Ärzteschaft von Rangun in Aufregung versetzt. Nicht, weil Sie ohne Zulassung praktizieren – das ist Sache der Behörden –, sondern weil Sie die Preise verderben. 10 Kyat, das deckt nicht mal die Selbstkosten.«
    »Bei mir schon! Sehen Sie sich um!«
    »Ihre Praxis ist eines Arztes unwürdig!«
    »Verschaffen Sie mir eine andere!«
    »Es gibt genug freie Wohnungen in Rangun. Neue Hochhäuser zum Beispiel.«
    »Mit astronomischen Mieten! Danke. Meine Kranken brauchen keine Ledersessel und Mahagonimöbel, sondern Vertrauen zu ihrem Arzt.«
    »Man wird Sie bekämpfen, Dr. Haller.«
    »Ich habe mich schon darauf eingestellt. Mein ganzes Leben war Kampf.«
    Haller nickte Siri zu. Sie ging zur Tür, öffnete und rief, wie hundertmal am Tag:
    »Der nächste bitte.«
    Der birmesische Arzt zögerte, während ein neuer Kranker, eine schwangere Frau, zaghaft ins Zimmer kam.
    »Wer ist das Mädchen?«
    Er zeigte auf Siri. Sie hatte seit einer Woche europäische Kleidung an und trug darüber einen weißen Laborkittel.
    »Meine zukünftige Frau, wenn es Sie beruhigt. Will man in Rangun Moral predigen? Ausgerechnet in Rangun?«
    »Nein, das will niemand.« Der kleine Birmese steckte sich eine Zigarette an. »Kommt das Mädchen nicht aus Nongkai und heißt Siri?«
    »Ja, es ist Siri.«
    »Sie hat sich unerlaubt aus einem Lepra-Dorf entfernt. Sie hat die Isoliervorschriften durchbrochen! Sie stellt eine ständige Infektionsquelle dar.«
    »Aha! Darauf wollt ihr Halunken hinaus!« Doktor Haller winkte der schwangeren Frau, zunächst auf dem Bett Platz zu nehmen. »Ihr wißt genau, welch einen Blödsinn ihr da redet. Über Siri wollt ihr mich kaltstellen, nicht wahr? Und jetzt kratzen Sie die Kurve, mein Bester, sonst trete ich Ihnen ganz unakademisch in den Hintern!«
    Der Mann ballte die Fäuste und rannte aus dem Zimmer. Die Frau auf dem Bett hielt sich mit beiden Händen den schweren Leib und begann leise zu weinen.
    »Das war falsch, Chandra«, sagte Siri und legte ein neues, weißes Tuch über den OP-Tisch. »Jetzt werden sie dich vernichten.«
    Dr. Haller betrachtete die schwangere Frau. Noch zwei Tage höchstens, dachte er. Das Kind hat sich schon tief gesenkt. Aber sie bekommt eine Gelbsucht, ihre Augäpfel sind schon gefärbt, und das ist nicht ungefährlich. Dann ist auch das Kind in Gefahr. »Sage der Frau, daß ich Blut entnehmen muß, und daß sie keine Angst haben soll.«
    Siri übersetzte es ins Birmesische. Die Schwangere nickte, ihr Gesicht veränderte sich, wurde eine undurchdringliche asiatische Maske. Sie streckte den Arm hin, Siri desinfizierte die Einstichstelle mit Alkohol, und Dr. Haller stieß die Kanüle sicher in die Vene.
    Ich habe noch eine ruhige Hand, dachte er glücklich. Eine völlig ruhige Hand. Dieser verrückte Anfall in Nongkai war vielleicht doch nur ein Warnsignal gewesen, sonst nichts. Von Tag zu Tag werde ich ruhiger, werde ich besser. Der alte Dr. Haller kommt wieder zum Vorschein, jener, zu dem ein Ordinarius der Chirurgie einmal sagte:
    »Hauen Sie ab, Mensch, bei mir können Sie nichts mehr lernen.« Wenn ein deutscher Ordinarius so etwas sagt, stehen die Naturgesetze auf dem Kopf.
    Gegen Mittag dieses Tages traf der Brief vom Ministerium ein.
    Siri und Haller saßen im Hinterzimmer von Chin-hao-Chins Lokal, dem Privatraum, in dem ihnen der Dicke eigenhändig das Essen servierte und dann seufzend vor ihnen Platz nahm, um seine von Haller verordnete Diät zu verschlingen. Die Grützbeutelnarbe war längst abgeheilt; allen neuen Patienten zeigte Chin-hao-Chin den kaum noch sichtbaren Schnitt: »Hier saß Tod in meinem Hals. Groß wie Kindskopf. Doktor hat operiert in neun Minuten. Alle herkommen! Alle angucken!«
    Jetzt saß er am Tisch und aß seine Diät: in Salzwasser gekochtes Fenchelgemüse.
    »Minister werden Sie verhaften«, sagte Chin-hao-Chin

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