Engel der Vergessenen
fauliger Geruch hing über Nongkai. Minbya hatte sich eine große Badewanne aus harzverschmierten Holzbrettern gebaut und lag schon drei Stunden darin und ließ sich von seiner Frau kühles Wasser über den Kopf gießen. Es war ein höllischer Tag gewesen, wolkenlos und windstill.
Dr. Haller ging langsam vom Hospital zu seiner Hütte zurück. Er hatte wieder neun Stunden am OP-Tisch gestanden.
»Rufen Sie das zweite Team!« hatte nach sechsstündigem Operieren Butoryan zu Haller gesagt. »Sie sehen erbärmlich aus, Doktor.«
Aber Haller hatte nur stumm den Kopf geschüttelt und weitergemacht.
Endlich war alles vorüber. Siri wartete in der Hütte mit dem Abendessen und ihren wundervoll erfrischenden Blumenölen, mit denen sie Haller nach jedem Bad einrieb und massierte.
Kurz vor der Hütte überfiel Haller wieder die lähmende Kälte, die er schon vergessen hatte. Er blieb wie zurückgestoßen stehen, atmete tief durch – es klang wie ein Seufzen. Wie damals zwang er sich weiterzugehen, aber diesmal hatte das Unbekannte kräftiger zugeschlagen. Er begann heftig zu schwanken, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, erreichte die Hüttentür und klammerte sich an ihr fest. Todesangst, die er nie vorher gekannt hatte, überflutete ihn so mächtig, daß er mit weit aufgerissenem Mund zu schreien begann. Aber niemand schien ihn zu hören, denn er schrie nach innen, wie er entsetzt feststellte; nach draußen drang nichts als ein klägliches Stöhnen. Die Glocke begann den Abend einzuläuten und schluckte nun auch diesen armseligen Laut, überdeckte ihn mit Dröhnen und Gottes Halleluja und hieb die Töne wie mit Schmiedehämmern auf Hallers Kopf.
»Aufhören!« brüllte er und erstickte an seinen Worten. »Aufhören! Hilfe! Hilfe! Siri! Siri!« Mit einem hohlen Gurgeln rutschte er an der Tür herunter, schlug mit dem Kopf gegen das Holz, und nur das machte Siri, die am Herd stand, aufmerksam.
Sie trocknete die Hände ab und zog die Tür auf.
Haller fiel ihr entgegen, schlug mit dem Gesicht auf, sie erwischte noch seinen Blick – große starre Augen, die etwas zu sehen schienen, was niemand sonst sah –, dann erst begriff sie, wer vor ihr lag.
Am nächsten Morgen wußte man Bescheid. Butoryan, Kalewa und sieben Ärzte hatten um Hallers Leben gekämpft. Was es an Möglichkeiten gab, war eingesetzt worden, aber welche Möglichkeiten gibt es bei einem versagenden, paralysierten Gehirn? Was da innen gerissen sein mochte, war irreparabel, darüber gab es keine Illusion. Es kam nur noch darauf an, das, was von Dr. Haller lebte, am Leben zu erhalten. Und das war wenig.
Er lag an drei Infusionen und Dauertropfs, das Herz wurde mit Injektionen zum Weiterschlagen gezwungen, der zusammenbrechende Blutkreislauf angeregt und hochgepumpt, um die Hirnzellen mit Blut und Sauerstoff zu ernähren. Das erst vor vier Wochen gelieferte Sauerstoffzelt, das Haller für überflüssig gehalten hatte, da man hier keine modischen Herzinfarkte zu behandeln habe, wurde von Dr. Kalewa aufgebaut und versorgte Haller mit frischem, reinem Sauerstoff.
Gegen Mitternacht war die größte Gefahr gebannt, aber erst gegen Morgen stand fest, daß es einen Dr. Haller, wie er gewesen war, niemals wieder geben würde.
Siri, die während der langen Stunden neben dem Bett gesessen hatte, stumm, eine atmende Puppe, mit gefalteten Händen, erkannte die Wahrheit, als Pala, der finstere, scheinbar nie zu einer Gemütsbewegung fähige Pala, am Bett Dr. Hallers niederkniete und zum erstenmal ohne Stocken das Vaterunser betete. Er weinte dabei, und das war fast ebenso ungeheuerlich wie die Tatsache, daß Dr. Haller nur noch als Hülle dalag, ein Balg aus Knochen, Muskeln und Haut, in dem ein rätselhafter Mechanismus klopfte und blies, röchelte und vibrierte.
»Er wird weiterleben«, sagte Dr. Butoryan zu Siri. »Aber ob man ihm das wünschen soll?«
»Chandra ist unsterblich!« sagte Siri.
»Jeder menschliche Körper vergeht, Siri.«
»Chandra nicht.«
»Das widerspricht aller biologischen Erfahrung, Siri. Es hat keinen Zweck, sich in Märchen zu flüchten. Das war eine Apoplexie, die ein anderer nicht überlebt hätte. Daß er sie durchgestanden hat, ist allein schon ein Wunder! Ein solcher Hammerschlag bricht einen Menschen auseinander.«
»Aber Chandra ist noch da!«
»Ja. Gelähmt. Kein Wimpernzucken, keine Bewegung der Zehen. Ich habe darauf gewartet. Ich habe ihn jeden Tag gewarnt. Bei seiner Liquoruntersuchung bin ich fast
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