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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ihn. Dr. Haller stand pünktlich am Operationstisch und hielt seine Hände hin, damit man ihm seine Gummihandschuhe überstreifte. Butoryan trat zur Seite, nun war er wieder der Erste Assistent.
    »Ich habe mich säuisch benommen, was?« fragte Haller leise, als sie sich am OP-Tisch gegenüberstanden. Butoryans Augenbrauen hoben sich.
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Dr. Haller …«
    »Ich danke Ihnen, Kollege. Es tut verdammt gut, einen Freund zu haben …«
    Verlegen strich Butoryan das Abdecktuch über dem nackten Körper des Patienten glatt. In diesem Augenblick verstand er, warum man Dr. Haller wie keinen zweiten Menschen lieben oder hassen konnte.
    Am Abend, müde, mit einem verzerrten Lächeln, das ungebrochene Kraft vorspielen sollte, obgleich der Körper an der Grenze des Zusammenbruchs angelangt war, saß Haller neben Siris Bett und fütterte sie mit dicken roten Kirschen, die Minbya, der seiner Krankheit wegen seine Tochter jetzt nicht besuchen durfte, an der Hospitaltür abgegeben hatte. In Zuckerlösung eingelegte Kirschen, für Siri der Inbegriff des Wohlgeschmacks.
    »Ich liebe dich«, sagte Haller bei jeder Kirsche, die er Siri in den Mund steckte. Sie war nicht so schwach, daß sie nicht selber hätte essen können, aber Haller bestand darauf, sie wie ein kleines Kind zu füttern. »Ich liebe dich!«
    »Ich bin so glücklich –«, sagte Siri plötzlich. Er sah sie erstaunt an.
    »Jetzt?«
    »Ja, Chandra.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Wie kann ein Mann das auch verstehen? Etwas von dir hat in mir gelebt.«
    »Noch nicht –«
    »Aber es ist gewachsen und hätte gelebt. Daß du so an Worten hängst, Chandra!« Sie legte ihr Gesicht in seine Hand und war so klein und schutzbedürftig wie ein junger Vogel. »Bleib bei mir, Chandra –«
    »Immer, Siri.«
    Ich werde Manoron bitten, uns bald zu trauen, dachte er. Und in Rangun werden wir es in der Deutschen Botschaft offiziell machen. Standesamtlich, nach deutschem Recht. Schon wegen der Erbfolge. Vor sieben Jahren hatte ich am Stadtrand von Hannover ein schönes Gartengrundstück. Jetzt, nach sieben Jahren, werden die Häuser um den Bauplatz herumgewachsen sein, ein grüner Fleck im Betonkragen, der Hunderttausende wert sein kann.
    Vorher hatte ihn das nicht interessiert. Ein Vagabund mit einem eigenen Baugrundstück – wie paßt das zusammen! Aber jetzt tauchte es wieder in der Erinnerung auf. Waldstraße, ohne Nummer. Siri sollte es erben. Sie würde die reichste Frau im Norden Birmas werden.
    Sie blieben die ganze Nacht zusammen, und jeder träumte mit offenen Augen von seiner eigenen Welt. Siri von dem Glück, Mutter von Chandras Kindern zu sein, und Haller von seinem letzten Kampf: seiner Rehabilitierung als Arzt in Deutschland.
    Gegen Morgen klopfte es an der Tür. Doktor Butoryan kam herein.
    »Ich muß Ihr Idyll stören, Dr. Haller –«, sagte er. »Sie werden gebraucht. Eine Schlägerei zwischen zwei Leprösen … der eine fand den anderen im Bett seines Mädchens. Jetzt fehlt dem einen ein Stück von seinem morschen Ohr, und dem anderen ein kleiner Finger. Wir müssen nachamputieren …«
    »Dann ran!« Dr. Haller stand auf und deckte die schlafende Siri mit dem Laken zu. Daß er vor Müdigkeit schwankte, nahm er nicht wahr.
    Welch ein glücklicher Mensch, dachte Butoryan und eilte Dr. Haller nach. Wer hat schon die Gabe, von einer Stunde zur anderen zu leben und sich wohl dabei zu fühlen?
    Am nächsten Tag fand die Glockenweihe statt.
    Es wurde ein Triumph der christlichen Kirche, und der Prediger Manoron, verstärkt durch den Kirchenchor, lobte Gott in allen Tönen. Nachdem er die Glocke gesegnet und ihr den Spruch mitgegeben hatte: »Wer Deine Stimme nicht versteht, ist ein Schwachkopf, aber Gott liebt die geistig Armen« – wurde die Glocke an dicken gedrehten Lianentauen hochgezogen und schwenkte in den neugebauten offenen Glockenturm. Dort standen der Küster, der zum letztenmal seinen geliebten Kürbis blies, Minbya, der Bürgermeister, vier kräftige Jünglinge und Pala, der als Neuchrist die Ehre hatte, der Glocke den ersten Stoß zu geben.
    Bis sie an dem Doppelhaken hing, sang der Kirchenchor und blies das kleine Orchester auf Trompeten und Hörnern. Jenseits des Blocks der Christen hatten sich die Buddhisten versammelt, an der Spitze der Mönch in seinem wallenden orangefarbenen Gewand. Die Sonne glänzte auf seinem glattrasierten Schädel.
    Die Glocke hing, Pala gab ihr den ersten Schwung, der Klöppel schlug an, und

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