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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ein schöner voller Ton hallte weit über Nongkai in den Dschungel.
    Plötzlich war es ganz still im Dorf. Es schien, als halte jeder für einen Augenblick den Atem an, sogar die Buddhisten. Selbst vom Dschungel her kam kein Laut, sogar den hochwasserwütenden Nongnong hörte man nicht mehr. Da war nur dieser eine Ton in der Luft, der jetzt von einem zweiten überholt wurde und mit dem Nachhall verschmolz, als Pala der Glocke den zweiten Stoß gab. Ein Ton, den noch keiner in Nongkai gehört hatte.
    Manoron rannen die Tränen über die Backen. Er raffte sein weißes Priestergewand, ging über den Marktplatz und breitete vor dem buddhistischen Mönch weit die Arme aus. Der glatzköpfige Jünger Buddhas kam ihm die letzten Schritte entgegen, und unter dem Klang der jetzt voll ausschwingenden Glocke umarmten sie sich, küßten sich brüderlich und sahen dann, Arm in Arm, am Glockenturm empor, wo das dröhnende Metall in der Sonne blitzte.
    »Die Ewige Liebe ist mit uns«, sagte der Mönch.
    »Amen!« sagte Manoron. »Kommt, Brüder, ich habe zwei Ochsen schlachten lassen. Jetzt fressen wir, bis wir umfallen!«
    An diesem Tag waren neunhundert Leprakranke eine einzige große Familie.
    Oberst Donyan suchte im Hospital Dr. Haller. Alle Ärzte und Schwestern waren zur Glockenweihe gegangen und standen um die beiden brutzelnden Ochsen herum, die sich an zwei riesigen Spießen über dem Feuer drehten. Der köstliche Bratenduft durchzog alle Gassen und drang in jede Hütte.
    Donyan fand Haller in einem Zimmer, von dem aus man auf die Kirche sehen konnte. Dort saß Siri auf einem Rollstuhl und lehnte den Kopf gegen Hallers Brust.
    »Auch das ist Ihr Tag, Doc!« sagte Donyan und trat neben ihn. »Was haben Sie alles für diese ärmsten aller Menschen getan! Diese neunhundert Leprösen da draußen wiegen tausendmal auf, was Sie im Leben angestellt haben mögen! Und ich prügele jeden zu Zwergschweingröße, der etwas Schlechtes über Sie sagt. Soll ich Ihnen ein Stück Rinderbraten bringen, Doc?«
    »Danke, Sie sind ja hier, Donyan. Ein Rindvieh genügt mir.«
    Die Glocke von Nongkai läutete eine neue Zeit ein.
    Doch das ahnte keiner von all denen, die um die Ochsen standen und darauf warteten, daß ihr Fleisch gar wurde.
    Was ist ein halbes Jahr im Leben eines Menschen?
    Wenn man ohne Kalender und nur nach dem Wechsel der Gestirne lebt, merkt man es gar nicht. Und selbst wer jeden Tag ein Kalenderblatt – und damit ein unwiederbringbares Stück seines Lebens – abreißt, ermißt erst am Wandel der Natur, daß Wochen vergangen sind, wie Wassertropfen im Sandboden versickern. Man hat gegessen und geschlafen, gearbeitet und geruht, geliebt und gelitten, das Schöne umarmt, das Häßliche gemieden, man hat erobert und war auf der Flucht, wie man es immer tut, ohne sich darüber Gedanken zu machen … und dann ist ein halbes Jahr herum, und man sieht, daß die Zeit in Wahrheit ein rasendes, fressendes, alles vertilgendes, unbesiegbares Ungeheuer ist.
    Siri kam bald wieder zu Kräften. Die tragische Fehlgeburt, der Verlust des Kindes, das sie unter dem Herzen getragen hatte, war auch für Siri ein schwerer Schock gewesen. Aber sie kam schneller darüber hinweg als Haller, der jede freie Minute an ihrem Krankenlager verbrachte. Sie war ja noch so jung und voller Hoffnung, daß sie noch viele Kinder mit ihrem geliebten Chandra haben würde. Schließlich war sie es, die Haller trösten mußte und die ihm neue Kraft gab, die er so dringend benötigte.
    Das Leben in Nongkai hatte sich völlig normalisiert. Klinikarbeit, Ambulanz, Poliklinik – eine Neuerung von Dr. Haller, die Dr. Kalewa leitete –, weiterer Ausbau der Hygiene, monatliche Besuche von Oberst Donyan, das Richtfest des neuen Hospitals, zwei Patiententransporte, die Einweihung der ersten Telefonverbindung zwischen Nongkai und Homalin, der ständig rollende Nachschub an Medikamenten und Instrumenten, Betten und Wäsche: all das erforderte Wachsamkeit, Organisationstalent und sorgfältige Registrierung.
    Nongkai – das war kein exotischer Name mehr. Er stand jetzt in den Spendenkarteien der großen Hilfsorganisationen in Europa und den USA. Fotos aus Nongkai illustrierten Aufrufe in aller Welt: »Helft den Kranken! Sagt der Lepra den Kampf an!« Nongkai war zum Symbol geworden für den unbändigen Lebenswillen des Menschen.
    Es war ein schwüler Abend, die Sonne ging merkwürdig blaß und milchig in einem Gespinst von Wolken unter. Der Dschungel lag wie gelähmt, ein

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