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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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verspreche Ihnen: Sie werden spätestens dann merken, wie tief im Dschungel Sie sind!«
    Dr. Haller wartete, bis Taikky und Karipuri die Stufen hinuntergingen und sich durch die Gasse der wartenden Kranken entfernten. Er stand am Fenster und sah ihnen nach. Angst empfand er nicht. Aber wie vermied man es, den beiden Gaunern eine Blöße zu geben? Er trat vom Fenster zurück und las noch einmal seine Liste durch. Hatte das alles wirklich einen Sinn? Wozu dieser plötzliche Aufwand von Charakter und Arbeitswillen? Eigentlich hatte er diese Stelle angenommen, um nicht wie ein birmesischer Bettler am Straßenrand liegen zu müssen. Wenn schon Abfall der Menschheit, dann in einer anständigen – Mülltonne. Das Hospital im Dschungel war ihm als der geeignete Ort erschienen. Stationsdienst, gerade das Nötigste tun und warten, was sein Körper in den nächsten Monaten mit ihm anstellen würde. Wie hatte er ahnen können, was Nongkai wirklich war?!
    »Scheiße!« sagte er laut. Die bettelnden gläubigen Augen der draußen wartenden Kranken trieben ihn vom Fenster weg. »Ich hätte in Homalin doch das Flugzeug entführen sollen …«
    Es klopfte an der Tür. Das war so ungewöhnlich und zivilisiert, daß Haller ebenso höflich »Herein!« rief.
    Siri kam in die Apotheke, wieder in Schwesterntracht, das gestärkte Häubchen auf den langen schwarzen Haaren.
    »Wir warten alle auf dich«, sagte sie.
    Haller nickte und faltete die Liste zusammen. Der nasse Anzug klebte auf seinem Körper, auch der weiße Arztkittel war mittlerweile durchgeweicht. »Was macht Pala, der wartende Mörder?«
    »Er steht an der Tür zum Krankensaal I.«
    »Mit dem Messer in der Hand?«
    »Nein, mit den Fieberkurven …«
    »Nicht möglich! Hier wird tatsächlich Fieber gemessen?«
    »Seit heute morgen, Herr …«
    »Nenn mich nicht Herr, Siri.« Er blieb vor ihr stehen und schob seine Hände in ihr langes, schwarzes Haar. Ihr Blick ruhte auf ihm, dieser ergebene und hoffende Blick, wie ihn nur eine Frau haben kann, die mit den Augen mehr spricht als mit dem Mund.
    »Küß mich, Siri«, sagte Haller rauh. »Verdammt, Mädchen, küß mich. Wenn einer es schafft, mich wieder umzudrehen, bist du es!«
    Sie antwortete nicht. Aber sie stellte sich plötzlich auf die nackten Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Es war ein Kuß, an dem ihr ganzer Körper beteiligt war. Dann stieß sie sich von Haller ab und rannte hinaus.
    Dr. Haller atmete tief durch und sah auf seine alte, verbeulte Armbanduhr.
    Zwanzig Minuten nach zehn und noch keinen Tropfen Alkohol getrunken. Das war in den letzten vier Jahren garantiert noch nicht vorgekommen.
    Pala, der Krankenpfleger, wartete an der Tür zu Saal I, die Fiebertabellen unter den rechten Arm geklemmt. Als er Dr. Haller sah, nahm er stramme Haltung an wie ein Soldat. Aber sein Blick verriet Haß.
    »Nun übertreib es nicht, Pala …«, sagte Haller gemütlich. »Nicht die Hacken knallen – ich bin Pazifist, und beim Anblick von Uniformen bekomme ich allergische Reaktionen.« Er nahm Pala die Fieberblätter ab und überflog sie. Es war, wie erwartet, erschreckend und deprimierend. Alle stationären Kranken befanden sich in einem geschwürigen Zerfall, das Fieber war hoch, sie kochten gewissermaßen, und bei vielen hatte Pala ein Kreuz mit Rotstift gemalt. Marasmus hieß das. Endstadium. Ein Mensch zerfiel …
    »Na, dann los, Pala«, sagte Dr. Haller. »Glaubst du auch an Wunder?«
    »Ja, Doc …«
    »Du bist blöd, mein Junge.«
    »Nein. Unser Herrgott sieht uns alle.«
    »Donnerwetter! Du bist Christ?«
    »Ja, Doc. Ich bin in Nongkai getauft worden.«
    »Von den Schwestern?«
    »Nein, von dem Prediger Johannes Manoron. Er steht draußen und wartet auf seine Untersuchung. Der Mann mit dem Knotengesicht.«
    Haller gab die Fieberblätter zurück. Welch ein Stück Welt, dieses Nongkai, dachte er. Da sammelt man Menschen, um sie verfaulen zu lassen, und ein Prediger ist unter ihnen, der sie missioniert und tauft. Und der ihnen Kraft gibt durch diesen Glauben, das ist am verblüffendsten.
    »Manoron sagt, Sie seien ein Engel …«, sagte Pala.
    Die Visite war ein Alptraum.
    Pala und Siri schlugen die weißbezogenen Decken zurück, und was Haller sah, ließ selbst ihn schaudern. Breitflächige Lepraherde mit grobknotigen, in Ulzeration befindlichen Geschwüren, Stümpfe nachlässig amputierter Gliedmaßen, deren Eiterung nicht zum Stillstand kam, entstellte Gesichter, aufgetrieben, löwenähnlich

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