Engel der Vergessenen
waren mit Bambusspeeren, Äxten, Vorschlaghämmern, Eisenstangen und Pfeilen bewaffnet. Es gibt im Dschungel Pfeilgifte, für die man noch kein Gegengift gefunden hat.
Klar, jedes Wort zweimal wiederholend, gab Doktor Haller seine Medikamentenliste durch. Mehr sagte er nicht. Nichts über die Zustände im Lepradorf, nichts über die Korruption von Taikky und Karipuri, nichts über die Gefahr, in der er ab heute schwebte.
Er glaubte Taikky damit eine große Chance zu geben, sich umzustellen. Aber er irrte. Er wußte nicht, daß man im Dschungel keine Gnade kennt.
Der zuständige Beamte des Gesundheitsministeriums in Rangun empfing Bettina Berndorf formvollendet mit einem Handkuß. Er ließ einen großen Obstteller bringen, eisgekühlten Orangensaft und herrliche kandierte Früchte. Dann, nach vielen asiatischen Höflichkeitsfloskeln und Komplimenten, breitete er eine Karte auf dem Tisch aus und legte den Finger auf einen Fleck im Norden des Landes. Bettina erkannte auf den ersten Blick so viel, daß dort im weiten Umkreis kein Name eingezeichnet war, nur ein paar Flußläufe zwischen grünen und bräunlichen Flächen. »Hier«, sagte der freundliche Beamte. »Nongkai!«
»Da leben Menschen?« fragte Bettina ungläubig. Sie beugte sich vor, aber sie konnte auch jetzt keine weitere Eintragung entdecken. Nur ein großer Fluß, westlich der Fingerkuppe des Beamten, war eingezeichnet. Das ist der Chindwin-River, dachte sie. Ich habe die Karte von Birma auswendig gelernt. Aber ich habe immer gedacht, Nongkai liege nahe an einer großen Stadt oder an der Küste. Den Norden habe ich nie beachtet. »Wie kommt man denn dorthin?«
»Nur mit dem Flugzeug. Homalin ist ein Militärflugplatz. Von dort führt eine schmale Straße nach Nongkai. Wenn schon Isolierung, dann richtig. Sie verstehen, Miß Berndorf?«
»Und alles wird mit dem Flugzeug hingebracht?«
»Alles.«
»Auch die neuen Leprafälle?«
»Auch sie. Wir haben dafür besondere Hubschrauber gebaut, die ständig in einer Desinfektionskabine stehen. Wenn wir zwanzig Lepröse gesammelt haben, steigt die Staffel von Lashio auf. Anders geht es nicht. Der Erfolg gibt uns recht. Birma ist das Land mit den relativ wenigsten Leprafällen in Ostasien. Wir tun aber auch alles für die Kranken.« Der Beamte faltete die Karte zusammen. »Der Chefarzt, Dr. Karipuri, gehört zu den besten Lepraärzten der Welt«, sagte er stolz. »Dazu ein Team ausgesuchter Mediziner. Verwaltungsdirektor Donu Taikky ist die Seele von Nongkai. Was er für die Kranken tut, was er an Geldern heranschafft, wie er diesen schwierigen Komplex verwaltet, ist lobenswert. Die Regierung wird ihm zum nächsten Neujahrsfest einen Orden verleihen. Sie sehen, Miß Berndorf«, der Beamte lächelte, »Sie werden mit Leuten zusammen arbeiten, denen die schwere Last der Leprabekämpfung eine Lebensaufgabe geworden ist.«
Es wurde noch viel gesprochen an diesem Tag, ehe Bettina zurück in ihr Hotel fuhr. Sie nahm den Reiseplan mit: In drei Tagen Flug nach Lashio, von dort nach Homalin, wo ein Jeep auf sie wartete.
Auch Dr. Haller hatte diesen Weg genommen.
Ihr großes Gepäck war auch angekommen und lagerte – tropenfest verpackt – im Güterschuppen des Ranguner Flughafens.
An diesem Abend, vor sich die goldene Pagode von Schwe-Dagon, im Blut der untergehenden Sonne, schrieb sie an Peter Pattmann ihre erste Karte:
Mein lieber Peter,
ich war immer ein ehrlicher Mensch, und so will ich auch jetzt nicht mit schönen Worten herumreden. Ja, ich habe Angst. Zu Hause hört sich das alles schön an: Birma! Die Geheimnisse Asiens. Und: Helft den Leprakranken. Rottet die Seuche aus! Die Lepra hat ihre Schrecken verloren. Ach, Peter – weißt Du, wo Nongkai liegt? Oben im Norden, im einsamsten Dschungel. Aber ich kneife nicht! Ich beiße mich durch. Peter, wenn Du jetzt hier sein könntest!
Was wird mich in Nongkai erwarten?
Deine Betty
Sie brachte die Karte hinunter zur Rezeption und blieb so lange stehen, bis der Hotelportier eine Marke auf die Karte geklebt hatte und sie in den Hotelbriefkasten warf.
Es war ihr, als schlage damit eine Tür zu. Als bliebe sie allein zurück, ausgesetzt in eine Einöde, in der selbst das Rufen keinen Klang mehr hatte.
Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man spürt, daß in der nächsten Sekunde etwas passiert. Das ist ein oft beobachtetes Phänomen, ein sechster Sinn, vielleicht das Auffangen einer besonders starken Strahlung, denn Menschen sind Sender und Empfänger,
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