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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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– der Mediziner nennt sie Facies leonina –, Haarausfall und Durchblutungsstörungen, Lähmungen und totaler Kräfteverfall.
    Er machte sich an einigen Betten die Mühe und untersuchte gründlich. Milz und Leber waren befallen, und wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, zu punktieren, hätte er auch die Zerstörung des Knochenmarks festgestellt.
    Dr. Haller ging von Bett zu Bett, gab den Todgeweihten die Hand, strich ihnen über die verzerrten, grimassenhaften Gesichter und spürte, wie sie an ihn glaubten, wie sie ihn wirklich für einen Engel hielten, den Gott ihnen gesandt hatte.
    Eine Stunde lang wanderte Haller durch das jammernde Elend. Dann saß er erschöpft im Arztzimmer und schloß die Augen. Siri kam mit einem Becher voll Fruchtsaft, und obgleich sich ein Alkoholiker vor allem ekelt, was nicht Alkohol ist, trank Haller den Becher in einem Zug leer und fühlte sich tatsächlich wohler. Pala stand an der Tür und schien auf Instruktionen zu warten.
    Was sollte man jetzt sagen? Was konnte man hier noch tun?
    »Morgen ist Operationstag«, sagte er müde. »Alles, was schon unterm Messer war, wird nachoperiert. Wer hat bisher assistiert?«
    »Dr. Adripur«, sagte Pala.
    »Er soll morgen um acht Uhr im OP sein. Siri, du bereitest die Instrumente vor. Pala, du suchst die Kranken aus, die es am nötigsten haben. Du kennst sie alle, ich verlasse mich auf dich.«
    »Ja, Doc.«
    »Und was jetzt?«
    »Die ambulanten Patienten, Doc.«
    »Das ganze Dorf?«
    »Ja, Doc.«
    Es dauerte drei Stunden, bis der Vorbeimarsch der Leprösen beendet war. Sie alle, die an Dr. Haller vorbeizogen, hatten eine Chance, zu überleben, wenn die Medikamente, die er anfordern wollte, auch in Nongkai eintrafen. Sie alle konnten gesund werden, wenn ärztliche Pflege der Krankheit keine Ruhe ließ. Dreißig Milligramm Fanasil am Tag, dachte Haller. Und dann von Monat zu Monat steigern auf täglich hundert Milligramm. Und immer und immer wieder und weiterkämpfen, Jahr um Jahr, bis die Gewebe sich schließen, die Hauterscheinungen verschwinden, die Bazillen zerfallen, die Nervenläsionen anfangen, sich zurückzubilden. Bis die Unglücklichen wieder Menschen sind wie andere auch.
    Das alles ist möglich, auch hier im Dschungel von Nongkai. Wenn ein paar Medikamente in die Körper der Kranken kommen statt in die Taschen von Doktor Karipuri und Donu Taikky.
    »Ihr schafft es!« sagte Dr. Haller zu den Männern und Frauen, denen er die Hand drückte, und er sagte es auch zu Minbya, Siris Vater, und zu dem Prediger Johannes Manoron. »Ihr schafft es! Ihr müßt mich nur unterstützen. Ihr müßt mir helfen, ihr alle! Allein bin ich wehrlos. Aber wenn das ganze Dorf hinter mir steht, kriegen wir auch Taikky klein. Ich hole Medikamente heran! In einer Woche wird es hier anders aussehen, das verspreche ich euch!«
    »Gott segne dich!« sagte der Prediger Manoron und hob die Hände.
    Haller wehrte ab. »Darauf sollten wir uns nicht verlassen! Besser ist eine Leibwache, die ihr mir stellt. Laßt mich nie allein, Tag und Nacht nicht. Das ist wichtiger, als Gott anzurufen.« Er drückte Manorons Hände herunter und hielt sie fest. »Wir müssen uns selbst helfen, mein lieber Prediger Johannes von Nongkai! Die Zeit ist vorbei, wo ein Mann namens Jesus durch Handauflegen heilte.«
    »Ich wußte es, Herr.« Minbya griff so schnell nach Hallers Händen, daß er sie nicht mehr zurückziehen konnte, und küßte sie. »Wir alle sind deine Brüder. Du bist unser Leben. Wir werden immer um dich sein!«
    Als die letzten gegangen waren, sank Haller nach vorn und vergrub das Gesicht in die Hände. So saß er eine ganze Zeit, am Ende seiner Kraft, aufgewühlt von dem Elend und erdrückt von der Last, die er übernommen hatte.
    »Jetzt einen Schnaps«, sagte er in seine Hände hinein. »Einen riesengroßen Schnaps.«
    »Trink!« antwortete eine sanfte Stimme.
    Er fuhr hoch. Siri stand vor ihm, eine Flasche in der Hand und hielt sie ihm hin.
    »Was ist das?« fragte er.
    »Whisky.«
    »Du bist ein Engel, Siri!«
    Er nahm ihr die Flasche aus der Hand, setzte sie an die Lippen und trank, trank und trank.
    Um sechzehn Uhr saß er hinter dem Funkgerät im Verwaltungsgebäude und hatte die Verbindung zum Gouverneur von Lashio hergestellt.
    Zur Ohnmacht verurteilt, saß Taikky auf einem Ledersofa. Auf der Terrasse lehnte Dr. Karipuri bleich an der Wand.
    Zehn kräftige, gesunde junge Burschen, Nachkommen von Leprösen, standen um Dr. Haller herum wie eine lebende Wand. Sie

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