Engel der Vergessenen
das allein und freiwillig in ein Lepradorf fliegt.
Wer Bettina Berndorf zum erstenmal sah, dachte an alles andere, hätte sie aber bestimmt nicht für eine Krankenschwester mit Tropenfachausbildung gehalten. Man hätte sie ohne Bedenken in eine Modeboutique versetzt oder ihr einen künstlerischen Beruf zugetraut. Sie war blond, hochgewachsen, langbeinig, an den richtigen Stellen wohlgerundet und strahlte so viel Gesundheit aus, daß ihr der Oberarzt im Tropenkrankenhaus einmal gesagt hatte: »Es ist unter lauter Kranken geradezu unanständig, wie frisch und munter Sie aussehen.« Sie hatte ein offenes, stets fröhliches Gesicht, aber das täuschte über die Energie hinweg, die in diesem schönen Körper verborgen lag. Im Tropenkrankenhaus erzählte man sich, daß sie 42 Stunden ununterbrochen Dienst gemacht hatte, als sie einmal nach Eppendorf an die Chirurgie ausgeliehen worden war. Die Stationsärzte und der Oberarzt waren nach diesem Marathondienst nur noch schweißgebadete, am Rande des Zusammenbruchs stehende Nervenbündel gewesen. Nur Bettina Berndorf, als Aushilfs-OP-Schwester ohne Unterbrechung an den Tischen, behielt die Ruhe und reichte die Instrumente an wie in der ersten Stunde.
»Viel Glück, Fräulein«, sagte der Taxifahrer, als Bettina aus dem Wagen kletterte und die jungen Männer sie in ihre Mitte nahmen. Peter Pattmann trug ihre Flugtasche. Das große Gepäck war schon per Luftfracht seit einer Woche nach Birma unterwegs.
»Danke.«
»Lassen Sie sich nicht von 'nem Tiger fressen, Fräulein«, sagte der Fahrer.
Es sollte ein Scherz sein. Wer wußte in diesem Augenblick, daß der kommende Sommer in Nongkai so heiß werden würde, daß die Tiger das Dorf belagerten und sich wenig darum kümmerten, daß ihre Opfer bereits von der Lepra zerfressen waren.
Wie gesagt, die Verabschiedung ging schnell, es blieb keine Zeit für lange Worte, aus den Lautsprechern tönte zum drittenmal die Ansage, daß der Flug LH 17 Neu-Delhi-Rangun startbereit am Flugsteig V stehe, man umarmte sich, sagte: »Mach's gut, Betty! Viel Glück!«, und dann blieb nur noch ein schnelles Winken übrig, bis Bettina Berndorf in dem überdachten Gang zu der wartenden Maschine verschwand.
Peter Pattmann wandte sich nachdenklich ab. Jeder in diesem Freundeskreis wußte, daß er Betty heimlich geliebt hatte, aber es war nie etwas zwischen ihnen gewesen. Jetzt, im Augenblick des Abschieds, der vielleicht ein Abschied für immer war, nannte sich Pattmann einen Idioten. Genausogut, wie Betty nach Rangun flog, hätten sie auch gemeinsam als Brautpaar oder gar Ehepaar nach Malawi gehen können.
Diese Chance war nun vorbei. Er trat an das große Fenster, sah, wie die mächtige Düsenmaschine vom Flugsteig wegrollte zur Startbahn, und drückte die Stirn gegen das kalte Glas.
Vielleicht komme ich nach, Betty, dachte er. Ich werde jedenfalls den Antrag stellen. Plötzlich tauche ich dann in diesem Lepradorf auf: »Betty, ich war ein Idiot. Frag mich nicht, warum, ich hatte Hemmungen – aber ich habe dich immer geliebt. Vom ersten Tag an, wo wir nebeneinander im Hörsaal des Tropeninstitutes saßen und über die Erkrankungen durch die Filarien, besonders über den Dracunculus medinensis, diskutierten. Damals hattest du lange Haare, sie leuchteten wie geschmolzenes Gold, wenn die Sonne darauf fiel. Ich war verrückt vor Liebe und fraß alles in mich hinein. Betty, ich war wirklich ein Idiot.«
Das Flugzeug donnerte über die Betonbahn, hob ab und stieß in den Morgenhimmel.
Peter Pattmann winkte noch einmal. Die Freunde wußten, was jetzt in ihm vor sich ging.
»Ich komme nach«, sagte Pattmann leise.
Am nächsten Tag, um die Mittagszeit, landete Bettina Berndorfs Maschine in Rangun. Weithin leuchtete das goldene Dach der 170 Meter hohen Schwe-Dagon-Pagode durch den blaßblauen, hitzeflimmernden Himmel.
Eine Stadt wie ein Märchen. Aber zuvor waren sie über die undurchdringlichen Dschungel geflogen, über zugewachsene Bergketten und vom Urwald verschlungene Täler.
Dort unten, irgendwo, weit weg von den Menschen, mußte auch das Lepradorf liegen.
Wie hieß es? Nongkai. Ach ja. Nongkai. Auf den Listen der bekanntesten Leprastationen wurde es nicht geführt. Warum nicht?
Als die Düsenmaschine vor dem Flughafengebäude von Rangun ausrollte, war Bettina Berndorf ehrlich genug, sich zu sagen: Ich habe Angst. Aber keiner soll das merken.
Die Apotheke war in einem schlimmen Zustand. Donu Taikky schwieg, als Dr. Haller die Bestände
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