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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wehren. Er schrie, aber er war schon zu schwach, um nach Pala zu treten oder ihn mit den Fäusten wegzustoßen. Er konnte nur brüllen, und das tat er, in höchster Angst vor den Messern der Ärzte, die ihn zerschneiden wollten. Er hatte ein paarmal – vor Monaten, als er noch ein ambulanter Fall war – bei Dr. Karipuri gesehen, was geschah. Lebendig fuhr man die Kranken in den Raum, den keiner betreten durfte, und tot kamen sie wieder heraus. Nur in den Bestandslisten von Taikky lebten sie noch weiter und kassierten Unterstützung von der Regierung.
    Der Armstumpf war verbunden. Adripur injizierte das Kreislaufmittel, sie hoben die alte Frau wieder auf das Rollbett und deckten sie bis zum Hals zu. Dr. Haller hörte noch einmal ihren Herzschlag ab.
    »Ein zähes Volk«, sagte er. »Bekommt am Rand des Marasmus eine Äthernarkose nach Urgroßväterart und kollabiert nicht einmal! Adripur, zeigen Sie dem schreienden Burschen draußen diese Frau und erklären Sie ihm, daß sie durchkommt. Rollen Sie sie durch alle Säle und machen Sie Reklame mit ihr. Das spart uns eine präoperative Medikamention.«
    Siri und Adripur rollten die alte Frau aus dem OP. Draußen erstarb das Geschrei, nur Pala schimpfte und schien unerschöpflich im Erfinden von Beleidigungen. Dann kam Siri zurück und schloß hinter sich die Tür. Unter dem weißen Kittel holte sie eine Flasche hervor.
    »Was ist das?« fragte Haller.
    »Reisschnaps, Chandra.«
    Er starrte sie an, setzte sich neben dem Eimer, in dem die amputierte Hand lag, auf einen Hocker und schüttelte den Kopf. »Sehe ich so aus, als ob ich das brauche?«
    »Du sollst glücklich sein, Chandra.«
    »Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie jetzt, Siri. Stecke die verdammte Flasche weg! Ich halte durch, das verspreche ich dir. Und wenn ich anfange, mit den Zähnen zu knirschen, dann schlage mir einen nassen Lappen um die Ohren. Vielleicht hilft das.«
    Sie stellte die Flasche mit dem Reisschnaps in einen der leeren Medikamentenschränke und schloß ihn ab. »Wenn du es nicht mehr aushalten kannst, Chandra, gehen wir in das Schwesternzimmer.« Sie kam zu ihm, lehnte sich an ihn und legte ihr Kinn auf seinen Kopf. Ihre spitzen Brüste waren in seiner Augenhöhe. »Wir werden uns lieben, und du wirst wieder ruhig werden.«
    »Ich liebe dich«, sagte Haller. »Ich habe es nicht mehr für möglich gehalten, noch einmal so etwas zu sagen. Vielleicht ist auch jetzt alles falsch, was ich mache …«
    »Es ist alles richtig, Chandra.«
    Sie küßte seine Stirn und strich mit den Fingerspitzen über seine Augen. Der elektrische Strom, den er schon einmal aus ihren Händen gespürt hatte, floß wieder in ihn über.
    »Nicht einmal umarmen kann ich dich«, sagte er.
    Er hob vorsichtig die Hände. Sie steckten noch in den blutigen Handschuhen, und er mußte sie auch anbehalten, denn es gab kein zweites Paar mehr. Pala und Adripur hatten vor der Operation alle Schränke, Schubladen und Gefäße durchsucht. »Ich habe in der Nacht über uns nachgedacht, Siri. So eine schlaflose Nacht ist wie ein zweites, anderes Leben. Man kann in ihm Spazierengehen wie in einem neu entdeckten Land, und man kann sagen: Dort werde ich das pflanzen, hier soll einmal jenes stehen, diese ganze neue Landschaft werde ich jetzt so bebauen, wie es mir im ersten Leben nicht gelungen ist.«
    »Und was hast du gebaut, Chandra?«
    »Eine Hütte an den Hügeln hinter Nongkai.«
    »Und wo war ich?«
    »Überall, wo ich war. Ob ich einen Baum ansah, eine Blume, einen Strauch, ein Stück Erde, einen Stein, die Wolken oder die Sonne: Immer und überall warst nur du.«
    »Wann bauen wir die Hütte, Chandra?«
    Sie küßte seine Augen, streichelte sein Haar und kreuzte dann die Arme hinter seinem Rücken. Sein Gesicht lag zwischen ihren Brüsten. Er konnte kaum atmen, aber er bewegte sich nicht.
    Von diesem Augenblick an wußte er, daß er das Lepradorf Nongkai nie mehr verlassen würde. In der Nacht noch waren ihm Zweifel gekommen, hatte er sich aufgelehnt gegen den Gedanken, den Dschungel als Endstation seines Lebens anzusehen. Ein paar Monate noch, hatte er gedacht. Mehr brauche ich nicht. Ich bin zwar ein Wrack, aber was hat man nicht schon alles erreicht mit Farbe, Leim und Tapeten? Ich werde mich wieder aufpolieren und zusammen mit Siri denen da draußen, diesen hochnäsigen Laffen, zeigen und beweisen, daß ich nicht geschaffen bin, auf allen vieren zu kriechen, sondern wieder aufrecht zu gehen!
    Das mit der Hütte am

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