Engel der Vergessenen
Narkosezwischenfällen kam? Zum Beispiel bei Atemdepressionen. Wenn der Patient kollabierte?«
»Er starb«, sagte Pala gleichgültig.
Dr. Haller wandte sich entsetzt an Siri. Sie stand hinter ihm und ordnete Tupfer, Kompressen, Verbände, Gefäßklemmen und Abdecktücher.
»Ist das wahr, Siri?«
»Ja, Chandra. Wer fragt denn in Nongkai danach, wie einer stirbt! Alle wissen, daß sie früher oder später so enden. Sie sind schon glücklich, wenn es der Nachbar ist und nicht sie.«
»Fangen wir an!« Dr. Haller ging an das Waschbecken und wusch sich die Hände und Unterarme mit Rapidosept. Auch diese Literflasche, noch zu Dreiviertel voll, war vier Jahre alt. »Hier lebt ein gesunder Menschenschlag – anders ist kaum zu erklären, daß Nongkai noch bevölkert ist!« Er rieb die Hände umeinander und beobachtete Siri, wie sie aus einer Steriltrommel die Gummihandschuhe herausholte. Sie sahen ungebraucht aus, es war das einzige noch vorhandene Paar, ein Beweis, daß Dr. Karipuri seit langer Zeit nicht mehr operiert hatte.
»Wie viele hast du zur Amputation ausgesucht?«
»Fünf, Chandra.«
»Ich hatte vierzehn angekreuzt.«
»Die anderen sind hoffnungslos, Chandra.«
»Nichts ist hoffnungslos. Verdammt, gewöhnt euch diesen Fatalismus ab!« Er trat mit tropfenden Händen in die Mitte des Raumes und streckte seine Arme vor. Geschickt streifte Siri ihm die Gummihandschuhe über. »Ich will alle vierzehn auf dem Tisch haben!«
»An einem Tag?«
»Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden.«
Durch die Tür kam Dr. Adripur. Er hatte sich eine weiße Operationskluft angezogen und tauchte wortlos seine Hände in die Desinfektionslösung. Dr. Haller blickte erstaunt zu ihm hinüber.
»Ich denke, Sie sind im Außenlager, Sabu?«
»Die Fälle dort draußen sind nicht so schwer, daß man sie jeden Tag behandeln müßte.« Adripur begann seine Arme mit einer harten Bürste zu schrubben. »Wollen Sie die ganze Arbeit allein tun?«
»Ich hatte es vor. Wenn Sie helfen, um so besser.« Haller lehnte sich an den OP-Tisch. Siri und Pala waren hinausgegangen, um den ersten Patienten zu holen.
»Wissen Sie, daß heute ein Feiertag ist? Lassen Sie mich nachdenken … Nach fast drei Jahren ist das heute das erste Mal, daß ich mich dazu aufraffe, eine wirklich produktive Arbeit zu leisten. Bisher habe ich gefaulenzt. Wissen Sie, was ich war? Hilfssanitäter auf Schiffen! Meine Aufgabe war es, vom Landgang zurückkehrenden Matrosen die Sanierungsspritze zu geben. Ab und zu durfte ich einer Lady – ich fuhr zwei Jahre auf einem Luxuskreuzer um die Welt – ein paar Migränetabletten bringen oder bei Windstärke 4 kotzenden Passagieren die Stirne kühlen.« Er klopfte auf den alten OP-Tisch und hob die Schultern, als Adripur nach einem zweiten Paar Gummihandschuhen Ausschau hielt. »Dabei war ich einmal ein guter Chirurg. Aber das hier heute« – er holte aus, als wolle er das ganze Dorf umarmen –, »ist eine Art Wiedergeburt.«
Siri und Pala rollten den ersten Patienten herein. Es war eine alte Frau, sauber gewaschen, mit wachen, kritischen Augen. Als sie den vorbereiteten Operationsraum sah, begann sie laut zu beten. Ihre linke Hand lag auf einer Gummidecke – ein knotiges, geschwüriges Etwas, aufgebrochen, eitrig, zerfallend.
Dr. Haller wartete, bis Siri und Pala die Frau auf den Tisch gehoben hatten. Sie war dürr und leicht, ein Gerippe, mit braungelber Haut überspannt, ausgezehrt und kraftlos. Nur ihre Augen hatten das Leben behalten. Hier sammelte sich alles, was der geschwächte Körper an verzweifelter Energie noch aufbieten konnte.
»Wir werden ein Stück von dir wegschneiden müssen, Mütterchen«, sagte Haller und lächelte beruhigend. Adripur, der neben ihn getreten war, übersetzte es in die Eingeborenensprache. »Man kann auch mit einer Hand leben. Fünf Finger sind genug.« Haller tätschelte der alten Frau die Wangen. »Mütterchen, du wirst eine Hand mit fünf Fingern behalten …«
Während Adripur Hallers Worte in die Eingeborenensprache übersetzte und die alte Frau ängstlich grinste, reichte Pala ihm die Maske für die Äthertropfnarkose.
»Was haben wir an Kreislaufmitteln da?« fragte Haller wieder. »Ich wette, daß das Mütterchen den verdammten Äther nicht komplikationslos verarbeitet.«
»Wir haben noch sechs Ampullen Panthesin-Hydergin hier.« Dr. Adripur setzte die Drahtmaske mit dem Mull auf die Nase der alten Frau. Siri öffnete den Verschluß der Tropfflasche.
»Sauber! Sechs
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