Engel der Vergessenen
Verdacht, daß sie aus Trotz doch etwas Falsches, wahrscheinlich sogar Lebensgefährliches getan hatte. Doktor Karipuri hatte es zur Begrüßung auf dem Flugplatz Homalin deutlich genug ausgesprochen:
»Miß Berndorf, der Hubschrauber fliegt nach dem Auftanken nach Bhamo und Lashio zurück. Er fliegt leer. Sie könnten …«
Und sie hatte den Arzt, der nun ihr Chef war, mit einem höflichen Lächeln angesehen und geantwortet: »Danke, Dr. Karipuri. Ich habe eine Arbeit übernommen. Ich führe diese Arbeit nach bestem Können aus.«
Das gleiche Kaliber wie Haller, dachte Karipuri. Er seufzte, lud Bettinas Koffer auf die Rücksitze des Jeeps und versank in Schweigsamkeit. Nur als Bettina einmal – nach einer Stunde – fragte: »Waren das Tiger?« antwortete er: »Ja, Miß Berndorf, das waren Tiger. Wir haben hier ein paar berüchtigte Menschenjäger.«
Während der Fahrt durch den Dschungel hatte Bettina Zeit, sich auf Taikky einzustellen. Er mußte ein bedeutender Mann sein. Die Regierung sang sein Lob, und die schreckliche ›Interessengemeinschaft‹ mit dem Henker Wong im ›Haus der sieben Sünden‹ schien ihn gleichfalls hochzuschätzen. Warum lebte ein so mächtiger Mann in einem abgeschlossenen Lepradorf? Warum wollte man sie mit Geld und Drohungen daran hindern, Nongkai zu erreichen? Erst jetzt, nach ungefähr zwei Stunden im hartgefederten Jeep, erinnerte sie sich daran, daß der Hubschrauber auch eine Menge Kisten und Kartons geladen hatte, deutlich als medizinisches Material gekennzeichnet, mit großen roten Kreuzen auf den Deckeln und an den Seiten. Dr. Karipuri hatte sich nicht darum gekümmert. Er hatte nur ihre Koffer eingeladen und war in den Dschungel aufgebrochen.
Wurde das Krankenhausmaterial später nach Nongkai gebracht? Übernahm das Militär von Homalin den Transport?
Dann sah sie Nongkai, die hohe Palisadenwand, das offene breite Tor, die Straße mit den Hütten, die beiden hohen steinernen Häuser, Verwaltung und Hospital, die Kirche und die ersten Leprösen, die den Jeep mit der weißen Frau anstarrten, als käme ein seltenes, eingefangenes Tier zu ihnen.
Karipuri bremste vor der Verwaltung, stieg aus und ließ Bettina im Wagen sitzen. Sie wartete ein paar Minuten, und als sich keiner um sie kümmerte, stieg auch sie aus und ging die Stufen zur Veranda hinauf. Dort saß ein riesiger, fetter Mann im Seidenanzug in einem breiten Korbsessel, aß kandierte Früchte und trank Tee aus einer flachen chinesischen Porzellantasse. Dr. Karipuri stand hinter ihm und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß vom Gesicht.
»Das ist sie«, sagte er.
»Ja, das bin ich«, sagte Bettina. »Ich weiß, daß ich nicht willkommen bin. Trotzdem möchte ich ein Zimmer haben und meine Koffer gleich dorthin tragen. Wohne ich im Hospital?«
»Natürlich. Im Schützengraben der Krankheit.« Taikky lachte dröhnend. Er war verliebt in seine Bonmots. »Man wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen, aber ich glaube, daß Sie sich die Mühe des Einräumens sparen können. In einer Woche kommt wieder ein Hubschrauber nach Homalin und nimmt Sie mit.«
»Ich habe einen Dreijahresvertrag.«
»Sehen Sie sich um, Miß Berndorf: Hier wollen Sie drei Jahre bleiben?«
»Ich habe zwar noch nicht viel von Nongkai gesehen, aber ich habe gelernt, mit meiner Arbeit zu leben.«
»Kommen Sie. Setzen Sie sich.« Taikky klopfte mit seiner massigen Hand auf den Tisch. »Es sind Fehler gemacht worden, große Fehler. Nun haben wir die Sorgen«, sagte er fast wehleidig. »Nongkai braucht keine fremde Krankenschwester, wir haben einheimisches ausgebildetes Personal, das reicht. Irgendein fortschrittlicher Idiot im Ministerium, der noch nie hier war, entwickelt da Ideen, an denen wir uns alle verschlucken werden. Sie werden bezahlt für nichts.«
»Das scheint eine Spezialität zu sein in diesem Land.« Bettina setzte sich in einen Sessel Taikky gegenüber. »Für nichts hat man mir 10.000 Pfund geboten.«
»Fehler! Nichts als Fehler!« Taikky seufzte. »Nun sind Sie hier, wir haben die Last – ach ja: Last!« Er beugte sich vor und stierte sie aus seinen kleinen, gefährlich kalten Augen an. Der Blick einer Raubkatze im Körper eines Nilpferdes, dachte Bettina.
Und plötzlich bekam sie wieder Angst.
»Ich muß Sie auf einige Besonderheiten aufmerksam machen, bevor ich Sie Nongkai richtig betreten lasse. Im Dorf wohnen ambulante Lepröse mit ihren gesunden Angehörigen. Im Hospital liegen die schweren Fälle. Es arbeiten
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