Engel der Vergessenen
Ampullen!« Dr. Haller nickte Siri zu, die ersten Tropfen fielen in die Äthermaske. »Ist es möglich, daß Taikky die Medikamente kistenweise in seinem Verwaltungsgebäude versteckt?«
»Ich nehme es an, Dr. Haller.« Adripur sprach wieder mit der Frau. Sie begann leise, mit heiserer Stimme, einen Singsang. Anscheinend zählte sie. Adripur drückte sein Stethoskop auf die faltige Brust der Alten. Pala hatte unterdessen die zerfressene Hand auf ein mit einem Gummituch bespanntes Brett gelegt und Beine und Oberarme der Frau mit den alten Riemen am Tisch festgebunden. Haller schob die Unterlippe vor. Narkose und Operation wie in einem Gruselfilm, selbst die Hauptdarsteller waren vollzählig: Ein lungenkranker Assistent, ein Krankenpfleger, der vermutlich auf die Gelegenheit zu einem Mord lauerte, eine Schwester, die den Arzt liebte, und ein Arzt, der ein versoffener Vagabund war.
»Aber keiner wagt zu fragen …«, sagte Adripur. Haller schrak auf.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß die Medikamente bei Taikky gehortet sind und verschoben werden.«
»Ich werde nach den Operationen mit meiner Leibgarde das Verwaltungsgebäude untersuchen.«
Adripur hob den Kopf. »Sie wollen Taikkys Burg stürmen?«
»Stürmen? Wieso? Ich bin völlig unmilitaristisch. Ich werde ein paar der schönsten ulzerierenden Leprösen zu ihm schicken, garantiert ansteckende Fälle, und die werden ihm sagen: Dickerchen, laß uns in deine Vorräte blicken, sonst schmieren wir dich mit unserem Eiter voll.« – »Taikky wird schießen!«
»Nein! Denn hinter den Leprösen stehe ich mit meinen zehn starken Jünglingen.« Dr. Haller blickte auf die alte Frau. Sie lag jetzt in Narkose, ihr Atem war flach, aber regelmäßig. »Puls normal«, sagte Adripur, als stehe er in einem vernünftigen Operationssaal. Haller nickte. »Warum habt ihr alle diese Angst vor einem einzigen Mann? Was ist er gegen ein ganzes Dorf?«
»Hinter ihm steht das Militär, Dr. Haller. Das wissen Sie noch nicht. Jeder hier will leben, so lange es möglich ist. Da beugt man den Kopf ganz tief und schluckt alles, auch, wenn es Dreck ist. Lieber wie ein Wurm leben. Aber leben! Können Sie das nicht verstehen? Diese Menschen hier haben doch nichts anderes als ihr Leben. Aufstand bedeutet Tod, und keiner weiß, wen es dann trifft. Wozu ein Risiko eingehen, solange man noch eine Hand voll Reis hat, Gemüse, Mehl, Reiswein, Tabak und Tee? Solange man jeden Morgen die Sonne sieht und jeden Abend den Mond? Erleben dürfen, daß man einen Tag überlebt hat! Das ist etwas so Herrliches, Dr. Haller. Das ist mit nichts zu vergleichen. Sie waren nie in einer solchen Situation.«
»Glauben Sie?« Haller lächelte schief. »Ich erzähle Ihnen mal in ein paar stillen Stunden mein Leben, Adripur. Wie steht's?« Er blickte Siri an. Sie hatte die Ätherflasche weggestellt.
»Sie schläft, Chandra.« Sie hielt das Skalpell hin und ein paar Gefäßklemmen. »Fang an!«
Haller nahm das Chirurgenmesser. Er wog es auf den Fingern und atmete tief durch. Ihm fiel erst jetzt ein, daß er noch keinen Tropfen getrunken hatte. Er schluckte ein paarmal, zwang sich, nicht an seine trockene Kehle zu denken, beugte sich über die zerfallende Hand und setzte den ersten Schnitt.
Von dieser Sekunde an wurde er ganz ruhig. Er wunderte sich selbst darüber. Das hat mir gefehlt, dachte er. Indem sie mich nicht mehr an die Patienten heranließen, haben sie mich systematisch kaputtgemacht. Aber jetzt komme ich wieder. Jetzt tauche ich auf aus dem Sumpf.
Nur einmal sah er sich verwundert um. Ihm fiel ein, daß er Siri keinerlei Angaben gemacht hatte, keine Instrumente verlangt hatte. Trotzdem lag immer in seiner seitwärts ausgestreckten Hand alles, was er gerade brauchte.
»Du bist phantastisch, Siri«, sagte er.
»Danke, Chandra.«
Haller amputierte die Hand weit im Gesunden und ließ einen genügend großen Hautlappen zur Stumpfdeckung übrig. Schweigend assistierte Dr. Adripur, auch ihm brauchte man nichts zu sagen.
»So ein Team im tiefsten Dschungel!« sagte Haller und schüttelte den Kopf. »Kinder, wenn ihr wüßtet, wie glücklich ich jetzt bin.«
Die Hand war so schnell abgetragen und der Stumpf so schnell versorgt, daß Pala, der sich um den zweiten Patienten kümmerte, in Zeitnot geriet. Der nächste Lepröse, ein junger Mann, dessen linke Gesichtshälfte fürchterlich aussah und der sich mit dem Sterben abgefunden hatte, lag draußen vor dem OP und versuchte sich gegen die Operation zu
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