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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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beiden Gewehre um den Hals, stopfte die Taschen voll Munition, tränkte seine Taschentücher mit dem Rest Benzin, der noch im Motortank war, und griff dann nach dem Lianenseil.
    Ein paarmal ruckte er daran, hängte sich an die glatte Leine und wartete darauf, daß sich das Boot drehte. Es schwankte leicht, rückte etwas nach vorn, aber die Unterwasserfesseln waren zu fest um die Schraube gedreht.
    Fünf dämliche Meter, dachte Haller. Welch ein Aufwand für eine so kurze Strecke. Woher kam nur plötzlich diese Todesangst? Vor einer Woche war es ihm noch völlig gleichgültig gewesen, wie man krepierte. Jetzt zitterte er um sein Leben und hatte Angst, ein unnötiges Risiko einzugehen.
    »Siri«, sagte Haller, »wenn ich drüben bin, ist das Leben anders geworden. Verstehst du das?«
    »Ja, Chandra.«
    »Nichts verstehst du. Ich versteh's ja selbst nicht!«
    »Du mußt kommen. Die Krokodile schwimmen zurück. Sie fressen dir die Beine aus der Luft ab!«
    Er blickte zum Fluß. Die letzten Reste der getöteten Reptilien waren verschlungen. Die flachen, breiten Mäuler mit den spitzen Zahnreihen waren wieder zum Boot gerichtet.
    Haller stieß sich vom Bug des Bootes ab, griff so weit nach vorn, wie er konnte, pendelte ins Leere, zog die Beine an und begann, sich an dem glitschigen Seil zum Ufer zu hangeln.
    Fünf Meter – jetzt nur noch vier – dreieinhalb …
    Kerl, wo hast du deine Muskeln? Du weißt, daß es aufwärts gehen muß, dir hämmert das Blut in den Schläfen, du hängst da wie ein nasser Sack und kommst nicht weiter! Die Lunge, mein Junge? Ja, die Lunge! Fünfzig Zigaretten am Tag. Und bis mittags um zwölf schon eine Flasche Gin. Und bis zum Abend waren es drei. Das weicht alles auf, das höhlt dich aus wie einen Kürbis, der von innen fault!
    Noch drei Meter, du versoffener Hund! Dir zittern die Arme? Du hast keine Kraft mehr in den Fingern? Du kannst nicht mehr zugreifen, Hand nach Hand, immer ein paar Zentimeter weiter? Du schaffst es nicht mehr? Dir läuft der Schweiß in die Augen? Reiß das Maul auf, du Schwächling! Atme! Hol tief Luft! Wie hoch sind deine Füße über dem Wasser? Nur ein paar Zentimeter? Dann können sie dich schnappen, mein Junge. Dann brauchen sie nur den widerlichen häßlichen Kopf zu heben, und weg sind deine Füße. Zieh die Beine an! In die Hocke, los! Und weiter!
    Noch zweieinhalb Meter …
    Haller hing an der Liane, keuchend, mit weit aufgerissenem Mund, angezogenen Beinen und kämpfte sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Dann blieb er hängen, legte das Gesicht gegen den linken Unterarm und wollte aufgeben.
    Ich schaffe es nicht, dachte er. Siri, dreh dich um. Ein Sack aus verdorbenen Knochen und Fleisch landet da, wo er hingehört – im Sumpf.
    »Komm, Chandra!« hörte er Siris Stimme. Dies war wie eine Infusion neuer Kraft. Er biß sich in den Unterarm, holte tief Luft und hangelte sich weiter.
    Noch zwei Meter.
    Er streckte sich, aber sofort traf ihn Siris Stimme.
    »Die Beine hoch, Chandra! Sie sind fast unter dir! Chandra – komm – komm …!«
    Er zog die Beine wieder an, hing in der Hocke an der Liane und warf den Kopf weit in den Nacken.
    »Ich komme!« brüllte er und zuckte vor der eigenen Stimme zusammen. Aber es tat gut. Verdammt, tat das gut.
    »Ich komme …!« brüllte er. »Ich komme! Ich komme!«
    Er zog sich weiter, Hand um Hand. Und er wußte, daß es ein Wettrennen war zwischen den heranschwimmenden Krokodilen und seiner letzten, armseligen Kraftreserve.
    »Hilf mir, Siri!« schrie er. »Siri! Siri!«
    Wie kann sie mir helfen, dachte er. Sie kann nur noch beten.
    Und dennoch konnte sie ihm helfen. Es war ein Wunder, über das er später oft nachdachte und das medizinisch nicht zu erklären war. Er hörte nur wieder ihre Stimme, so nahe, als hinge Siri neben ihm, und sie sagte: »Ich liebe dich – ich liebe dich – ich liebe dich …«
    Es war ein Rhythmus, der ihn mitriß. Es war der Rhythmus, nach dem seine Hände zupackten, Zentimeter um Zentimeter, Hand um Hand. So wie die Eingeborenen in den Booten ihre Vorsänger haben, wie der Schlagmann in der Regatta die Ruderer anfeuert, wie früher auf den Galeeren mit Holzhämmern der Rhythmus geschlagen wurde, nach dem die Ruder ins Meer tauchten und durchgezogen wurden, so war Siris Stimme um ihn, in ihm. Es gab nur diese Stimme, und sonst nichts auf der Welt, sie trieb ihn vorwärts und erfüllte ihn mit unerklärlicher Kraft.
    »Ich liebe dich – ich liebe dich – ich liebe dich …«
    Sie

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