Engel der Vergessenen
Angstschweiß trat aus allen Poren.
Dann sprang er auf, ging nach vorn und sah Siri den Ast entlangklettern, mit einer Geschicklichkeit, als sei sie auf Bäumen groß geworden und habe nichts anderes getan, als sich von Ast zu Ast zu schwingen. Sie erreichte das Ufer, sprang auf den feuchten Boden und winkte ihm zu.
»Ich baue dir einen Steg!« rief sie. Es klang fast fröhlich. Er dachte: Sie lebt! Ob ich hinüberkomme, ist gleichgültig. Hauptsache, sie ist gerettet. Er nickte ihr zu, wartete, bis sie in dem dichten Mangrovenwald verschwand, und kehrte dann zurück zu seinem Gewehr. Er brachte es auf der Motorhaube in Anschlag und wartete auf die Rückkehr der Krokodile.
In der Mitte des Flusses trieb ein ausgehöhlter Panzer ab. Die Reptilien blieben noch immer in dem blutgefärbten Wasser und schwammen erregt hin und her. Sie belauerten sich und warteten auf den nächsten Sterbenden.
Haller hatte Zeit, über sich, Siri und Nongkai nachzudenken. Der Kampf mit Taikky und Karipuri hatte erst begonnen. Dieser hinterhältige Anschlag mit den wassergefüllten Benzinkanistern war nur der Anfang. Es würde noch viele Möglichkeiten geben, ihm nach dem Leben zu trachten, und einmal konnte es sogar gelingen. Man kann nicht Tag und Nacht auf der Lauer liegen und sich in nichts anderes kleiden als in Mißtrauen.
Wie wenig nützte ihm seine kleine Leibwache in einer solchen Situation. Taikky hatte ihn überlistet und hatte es so vollendet getan, daß niemand auf die Idee gekommen war, das Verschwinden der Brüder Khawsa könnte nur eine Finte sein.
Plötzlich dachte er an Bettina, und die Angst trieb ihm das Blut in den Kopf. Ihr einziger Schutz war jetzt Adripur, aber was konnte er gegen Karipuri und Taikky ausrichten? Er war ein schwächlicher, lungenkranker Mensch, dem nur noch kurze Zeit blieb.
Haller starrte hinüber zu dem nahen Ufer. Die ersten Krokodile lösten sich aus dem Rudel und schwammen langsam näher. Er legte das Gewehr wieder an, zielte auf den ersten kräftigen Burschen und traf ihn genau ins linke Auge. Das Tier schnellte hoch und überschlug sich in einem verzweifelten Todeskampf. Schon beim Zurückfallen schnappten die anderen zu und rissen ihm den Leib auf.
Wieder Ruhe, dachte Haller. Eine Atempause nur. Das Leben ist eine grausame Sache. Es existiert durch den Tod der anderen. Warum wundert man sich eigentlich, daß ganze Völker aufeinander losschlagen und sich ausrotten? Weil wir ein logisch denkendes Hirn haben – und die Tiere nicht? Gerade dieses denkende Hirn macht den Menschen so gefährlich – ich habe es oft genug erfahren.
Drüben im Unterholz knackte es. Siri tauchte wieder auf. Sie hatte den Tropenanzug ausgezogen, war bis zu den Hüften nackt und schleppte dicke Äste an den Rand der Bucht. Sie waren zu kurz. Aber Haller ahnte, was sie mit ihnen beabsichtigte.
»Ich werfe sie ins Wasser!« rief sie. »Wenn es genug sind, kannst du auf ihnen stehen wie auf einem Floß.«
»Nimm das Messer! Versuche, Lianen abzuschneiden. Bis du das Holz gesammelt hast, vergeht zuviel Zeit.« Er warf ihr das Messer hinüber. Sie hob es auf und rannte in den Wald zurück.
Die Untätigkeit, zu der er verurteilt war, regte ihn auf. Er saß gefangen in einem grünen Brei, und das war so lächerlich, daß er wieder versuchte, die Motorschraube frei zu bekommen, um das Boot wenigstens noch einen Meter weiter zum Ufer zu stoßen. Mit aller Kraft drückte er, legte sein ganzes Gewicht auf den Motor und wippte mit ihm auf und ab.
Drüben erschien wieder Siri, warf neues Holz in das Wasser und zog eine lange Lianenkette hinter sich her. Haller schätzte, daß sie lang genug war, um das Boot mit dem Baum zu verbinden.
»Wirf sie herüber!« rief er. »Wir haben es hinter uns! Du bist ein Genie, Siri!«
Sie band ein Stück Holz an das Ende der Liane, ließ es dann wie ein Lasso ein paarmal um ihren Kopf kreisen und schleuderte es hinüber zum Boot. Haller fing es auf, knotete die Liane um den Motorblock und wartete, bis Siri das andere Ende ziemlich hoch um den Baumstamm gebunden hatte: ein schräggespanntes Seil, an dem man sich hinüberhangeln konnte, falls das Boot sich nicht gerade dann aus der Umklammerung der Pflanzen riß.
Haller begann, alles was man zum Überleben brauchte, ans Ufer zu werfen. Die Beutel mit den Lebensmitteln, die drei kleinen Kanister mit Frischwasser, die Deckenrolle und zuletzt die Plastiktasche, in der er einige Medikamente mitgenommen hatte. Dann hängte er sich die
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