Engel der Vergessenen
meine Herren. So etwas hatten wir in Dachau, Buchenwald und Bergen-Belsen.«
Und Taikky hatte mit schiefem Lächeln geantwortet: »Damals habt ihr Deutschen eure Gegner isoliert. Wir schützen die Welt vor Kranken.«
»Indem ihr sie zu Vergessenen macht und sie verfaulen laßt. Das haben sie in den KZ's auch gemacht.«
»Die Verantwortlichen wurden dafür bestraft, zum Teil mit dem Tode.«
Und Haller hatte mit einem bösen Lächeln zugestimmt: »Genau das wollte ich sagen, Taikky. Man kann der Gerechtigkeit nur eine Zeitlang davonlaufen.«
Es war einer der vielen Gründe, warum Haller sterben mußte.
»Ich kenne einen Weg«, sagte Siri, als sie vor dem hohen Drahtzaun standen. »Unter dem Zaun durch, Chandra. Ein schmaler Gang von einem Busch zu einer Hütte.«
Es war ein enger, gefährlicher, nicht abgesicherter Kriechgang, in den sie hineinstiegen. Eine Erdröhre, als hätten Füchse sie gegraben und keine Menschen. Siri kroch voraus, und Haller, mit seinen breiten Schultern, hatte Mühe, nachzukommen und nicht in dem Erdschlauch hängenzubleiben. Als sie den Ausstieg in der Hütte erreichten und die hölzerne Falltür aufklappten, stand oben ein alter Mann und zielte mit einem langen Gewehr auf die aus der Erde auftauchende Gestalt.
Er warf sofort die Waffe weg, half Siri aus der Röhre, zog Dr. Haller in das Licht der Nongkai-Öllampen und küßte ihm die Hand.
»Gott segne Sie«, sagte er in dem singenden, holprigen Englisch, das sie hier alle sprachen. »Gott hat seine Hände über Sie gebreitet und läßt Sie nicht verderben.«
Haller warf die Falltür zu und sah sich um. Sie waren in der Hütte des christlichen Predigers Manoron gelandet, der bei jeder Predigt Gehorsam und Pflichtbewußtsein lehrte und der Besitzer eines heimlichen Ganges in die Freiheit war.
»Wie lange habt ihr den Gang schon?« fragte Haller. Manoron legte wie betend die Hände aneinander.
»Zwei Jahre, Doktor.«
»Seit zwei Jahren streicht ihr also heimlich durch die Gegend.«
»Nur um zu leben, Herr. Nicht um zu flüchten. Durch diesen Graben ist noch keiner aus Nongkai geflohen. Hier verlassen nur die ausgewählten Jäger das Dorf und bringen frisches Fleisch herein. Ist das ein gutes Werk, Doktor, das dem Herrn wohlgefällig ist?«
Dr. Haller nickte. Der Wille zum Überleben, der verzweifelte Kampf gegen das von Taikky diktierte Schicksal war hier entscheidend. Ohne es zu wissen, hatten die Kranken das Richtige getan! Eine kräftige Ernährung, viel Vitamine, viel Kalorien, den Körper vollpumpen mit natürlichen Abwehrstoffen!
»Werden Sie den Gang zuschütten lassen, Doktor?« fragte Manoron.
»Warum?« Haller lachte. Es fiel ihm schwer, aber er tat es, um Manoron zu beruhigen. »Ich verlange nur jede Woche ein großes Stück Fleisch!«
»Der Herr hat Sie zu uns geschickt«, sagte Manoron. Er verbeugte sich tief, lief zur Tür, riß sie auf und ließ Siri und Haller hinaus in die Nacht.
Sie gingen die stille Dorfstraße hinunter bis zu Hallers Hütte. Dr. Adripur schlief, kein Lichtschein fiel durch das kleine verhängte Fenster. Vor der Tür blieb Haller stehen und gab Siri sein Gewehr.
»Geh hinein«, sagte er, nahm ihren schmalen Kopf zwischen seine Hände und küßte sie. Ihre Lippen waren wie vereist. Sie hat Angst, durchfuhr es ihn. Sie hat die ganze Zeit eine höllische Angst gehabt. Sie ist fast umgekommen vor Angst. Und sie war trotzdem meine ganze Kraft. »Geh hinein, Siri!«
»Nein«, sagte sie leise.
»Ich bin schnell wieder zurück.«
»Ich lasse dich nicht allein, Chandra.«
»Es gibt Dinge, die muß ein Mann allein tun.«
»Ich bin deine Liebe«, sagte sie.
»Wie du willst!« Haller wandte sich ab und ging weiter. Das dunkle, steinerne Verwaltungsgebäude lag wie ein breiter Klotz neben dem Hospital.
Ein einsames Licht war noch zu sehen: die Nachtstation. Da tat jemand Dienst für neunundzwanzig Unheilbare, die in ihren Betten lagen und an ein Wunder glaubten, und nebenan, in der Hospitalapotheke, standen die leeren Medikamentenschränke.
»Komm mit!« sagte Haller heiser. Dieses einsam beleuchtete Fenster trieb seine Wut an die Grenze der Beherrschung. Es war wie ein Signal, nicht aufzugeben, immer und immer wieder anzugreifen.
Er ging weiter, und erst kurz vor der Veranda des Verwaltungsgebäudes fiel ihm auf, daß er Siris Schritte nicht hörte. Sie war nicht mehr hinter ihm. Er wartete ein paar Sekunden vergeblich und betrat dann das Haus.
Taikky war kein ängstlicher Mann. Er schloß
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