Engel der Vergessenen
…«
»Blödsinn!« unterbrach er sie barsch. »Dieses dumme Gerede von Engeln!«
»… und als ein Götze stehen Sie jetzt da.« Sie atmete heftig. »Dr. Haller, diese Verlorenen und Vergessenen haben einen Gott aus Ihnen gemacht. Sie haben Ihnen geopfert!« Sie sah, wie Haller erschrak, und nickte mehrmals, ehe sie weitersprach. »Ja, geopfert! Dem großen Gott der Heilung! Vor drei Stunden hat man auf dem Marktplatz den Brüdern Khawsa die Köpfe abgeschlagen …«
Siri stand allein auf dem Marktplatz, die Hände flach auf die Brust gelegt, mit gesenktem Kopf. Wie auf einer verdunkelten Bühne, auf der die Akteure im hellen Kreis eines Stichscheinwerfers stehen, beleuchtete der Mond zwischen zwei Wolkenbänken den Platz, das Mädchen und die beiden enthaupteten Toten. Sie lagen noch so da, wie man ihnen die Köpfe vom Rumpf getrennt hatte: Auf der Seite, die Beine im letzten Entsetzen angezogen, mit entblößten Oberkörpern, die übersät waren von den Narben abgeheilter Lepra-Ulcera. Man hatte ihnen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Die Köpfe waren mit einem gewaltigen Schlag sauber direkt über der Schulter abgetrennt. Es mußte ein Fachmann gewesen sein, der hier sein Werk verrichtet hatte.
Dr. Haller blieb neben Siri stehen. Bettina hatte ihn nicht bis zu den Toten begleitet; sie lehnte an der Bürgermeisterhütte Minbyas und würgte an einer den ganzen Körper erfassenden Übelkeit.
»Wer war das?« fragte Haller leise.
»Ich weiß es nicht, Chandra.« Siri hob den Kopf. Ihre schwarzen Augen glänzten. Mein Gott, durchfuhr es ihn, in diesen Augen liegt kein Entsetzen – da leuchtet Triumph! Ihr Körper ist das Vollkommenste, was die Natur aus einem Menschen machen kann, und ihre Liebe ist das Reinste und Demütigste, das je einen Menschen beglückt hat. Und trotzdem trennen uns Welten, zwischen die sich kaum eine Brücke schlagen läßt.
»Du weißt es genau«, sagte er. Seine Stimme klang lauter, als er erwartet hatte, und sie wurde noch lauter, als er weitersprach. »Das ist Mord! In meinem Dorf werden Menschen umgebracht. Meine Kranken sind Mörder geworden! Seid ihr alle denn nichts als wilde Tiere?«
Er sagte ›mein‹ Dorf, ›meine‹ Kranken. Es fiel ihm nicht auf, wie eng er bereits mit Nongkai verwachsen war, aber wie hätte er sonst so reden können?
»Ich will die Mörder sehen!«
»Das ganze Dorf wird vor dich hintreten. Sie haben es alle gewollt.«
»Wer hat die Köpfe abgeschlagen?«
»Willst du das Messer bestrafen, das schneidet? Die Hand ist wichtiger. Und die Hand sind wir alle.«
»Du also auch«, sagte Haller. Er sah sich um. Im Schatten der Hütte von Minbya lehnte Bettina an der Flechtwand.
»Ich hätte es nicht verhindert, Chandra«, sagte Siri. »Sie wollten helfen, dich zu töten! Und deshalb war es ein Mordanschlag auf das Dorf. Verstehst du das nicht?«
»Ich weigere mich, das zu verstehen!« schrie Haller. »Ich fliege zurück nach Rangun. Ihr seid es nicht wert, daß man sich um euch kümmert. Verfault wie bisher! Erwartet nichts mehr von mir. Ich werde zu Taikky und Karipuri gehen und sie um Verzeihung bitten.«
Aus den Schatten der gegenüberliegenden Hütten löste sich eine lange, dürre Gestalt und kam langsam über den Marktplatz. Sie machte um die beiden Geköpften einen Bogen und legte, als sie vor Haller stand, den Arm wie schützend um Siris Schulter.
»Aha! Der große Tröster, Dr. Adripur! Halten Sie den Mund, mein Junge! Haben auch Sie den Daumen nach unten gehalten, als es zur Abstimmung ging? Wo waren Sie da? Ich könnte Sie jetzt fragen: Wer war der Mörder? Aber auch von Ihnen würde ich keine Antwort bekommen! Sie gehören in diese Welt, aus der ich so schnell wie möglich verschwinden werde. Ja, starren Sie mich nur an, Sie kranker Träumer! Ich flüchte! Ich renne weg vor den Menschen, weil sie mich anekeln!«
»Sie sind ungerecht, Dr. Haller«, sagte Adripur ruhig. »Und Sie sind verbittert.«
»Sind zwei abgeschlagene Köpfe kein Grund, sich Gedanken zu machen?«
»Die Gesetze im Dschungel sind hart, aber gerecht. Die Brüder Khawsa haben für eine Handvoll Geld nicht nur Sie an den Tod verkauft, sondern auch die Hoffnung von fast dreihundert Leprösen.«
»Ich habe keinen Ehrgeiz, Adripur, mich zu einem Gott von Nongkai machen zu lassen.«
»Was wollen Sie? Sie sind es bereits!«
»Das ist doch Irrsinn!« schrie Haller.
Er sah sich nach Bettina um. Sie drückte das Gesicht gegen die Hüttenwand und schluchzte. In
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