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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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diesem Augenblick suchte er Hilfe, und es war keiner da, der zu ihm stand. Allein gelassen, sah er sich dieser fremden Welt gegenüber, die ihn hinabzog in das Dunkel von Mystik und Götterglaube und sich an ihn klammerte als an den großen Erretter.
    Daran änderte auch die Kirche nichts mit dem Kreuz auf dem Dach, nicht der Prediger Manoron, nicht die Taufe und das sonntägliche Gebet, nicht die geisterhafte Prozession der Leprösen am Fronleichnamstage, von der Adripur ihm erzählt hatte.
    Das Urleben war geblieben – von der Geburt bis zum Tode ein ständiger, erbarmungsloser Kampf um jeden Tag Sonne, jeden Tag Weiterleben, jeden Tag Sattsein. Wie die Pflanzen im Dschungel Samen streuten, aufblühten, wuchsen und schließlich wieder abstarben, so lebten auch hier die Menschen. Ein armseliger, lächerlich machtloser Teil der grandiosen, alles bestimmenden und regulierenden Natur.
    »Ich fliege mit der nächsten Maschine nach Rangun zurück. Adripur, das ist nicht so dahergesagt, das ist ein Schwur.«
    »Und wo willst du hin, Chandra?« fragte Siri mit ganz kleiner Stimme.
    »Das Land suchen, wo Gin und Whisky auf den Bäumen wachsen, und mich endlich totsaufen. Was habe ich unter diesen Menschen noch zu suchen? Da denkt man sich in einer Stunde voller Selbstmitleid, in der man auf der Schnauze liegt und weniger ist als Dreck: Rappele dich auf, Haller! Kerl, du bist doch Arzt, warst früher sogar ein guter Arzt – warum soll es nicht noch einmal gehen? Irgendwo in diesem Land werden Kranke sein, die sich nicht daran stören, daß der Onkel Doktor sie mit einer Alkoholfahne empfängt. Er kann ihnen helfen – das allein ist wichtig. So etwas wollte ich sein – und dafür schien mir Nongkai gerade richtig. Aber was werde ich hier? Ein Engel! Ein Gott! Ein Götze! Man opfert mir Köpfe! Ich weiß! Wo ich auftrete, ist Chaos. Das bin ich gewohnt. Deshalb will ich auch so schnell wie möglich weg!« Haller starrte auf die beiden Toten. Er weigerte sich, ihre Mörder zu verstehen. Er konnte einfach nicht so denken wie sie. »Um acht Uhr morgens stehen hier neben den Geköpften ihre Henker! Um neun Uhr telegrafiere ich mit dem Gouverneur. Um zehn Uhr fahre ich nach Homalin.«
    »Um zehn Uhr werden Sie tot sein, Dr. Haller«, sagte Dr. Adripur ruhig.
    »Das ist mir Wurscht!«
    Er drehte sich um, ging zu Minbyas Hütte und trat ein. Minbya schien ihn erwartet zu haben. Er saß auf der Erde an einem kleinen Bambustisch und trank Tee aus einer flachen Tonschale. Im Hintergrund, neben dem gemauerten Herd, lag seine Frau und sah Haller aus ängstlichen Augen an.
    »Nimm deine Tochter zurück!« sagte Haller ohne Einleitung. »Hol sie aus meinem Bett, bevor ich sie wegjage. Das möchte ich ihr ersparen.«
    »Siri wird nicht gehen, Herr.« Der alte Minbya füllte eine Schale mit Tee und hielt sie Haller entgegen. Haller zögerte, dann schlug er gegen Minbyas Hand, die Schale fiel zu Boden und zerbrach. Minbyas Augen über der Nasenbinde verrieten keine Erregung.
    »Ich habe sie geköpft«, sagte er ruhig.
    »Das glaube ich nicht. Es ist wie bei Siri. Um dein Dorf zu retten und mich zu halten, hast du sie mir ins Bett gelegt. Jetzt hältst du deinen Kopf hin, wieder um dein Dorf zu retten! Umsonst, Minbya. Ich habe genug von euch. Vorgestern, am Operationstisch, habe ich geglaubt: Hier hast du endlich eine Heimat. Du hast deine Kranken, eine Aufgabe, der du seit Jahren nachjagst, hast ein eigenes Hospital, du kannst helfen, kannst dich an den eigenen Haaren aus dem Dreck ziehen, und du hast Siri. Bei Gott, Minbya, ich habe noch nie eine Frau so geliebt! Ich war bereit, Nongkai zum Mittelpunkt meiner Welt zu machen, noch einmal im Leben beweisen, zu was ich imstande bin. Es wäre keine lange Zeit gewesen, Minbya – aber eine schöne Zeit. Die meisten Mediziner machen die Augen zu, wenn sie ihre Lebenschancen taxieren sollen. Sie sind Meister im Selbstbetrug. Ich nicht. Ich weiß genau, wie es um mich steht. Meine Leber ist ein steiniger Klotz, und mein Hirn stirbt in Etappen ab, schleichend, bis zum großen Schlag. Noch ein halbes Jahr mit dem Alkohol leben, und es ist soweit. Für Nongkai hätte ich dagegen angekämpft. Für Siri hätte ich alle Reserven mobilisiert. Aber das da draußen« – er streckte den Arm aus –, »das ist zuviel, Minbya. Das mache ich nicht mehr mit.«
    »Ich habe sie allein getötet, Herr. Ich war verrückt aus Angst um dich.« Minbya hob seine Hände. Die dicken Knoten an den Fingern wölbten sich

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