Engel der Vergessenen
Haller entgegen. Er starrte sie an, blickte in das nasenlose Gesicht mit den hündisch bettelnden Augen und begann zu würgen.
»Bleib, Doktor, bleib! Du kannst doch deine Kranken nicht allein lassen, nur weil sie dich lieben!«
Das war der Graben, den er nicht überspringen konnte. Es war wie auf dem Nongnong – er saß in einem Boot, umgeben von blutdürstigen Krokodilen, fünf Meter vor ihm lag die Freiheit, aber er konnte nicht hinüberspringen, nicht ohne Hilfe, nicht ohne Siri …
Haller drehte sich auf dem Absatz herum und lief hinaus. Es war eine Flucht. Draußen vor der Tür stand Siri und wartete auf ihn. Adripur war schon gegangen.
»Geh hinein!« sagte er grob zu ihr. »Gewöhne dich daran, daß ich nicht mehr da bin.«
»Du bist noch da, Chandra.« Ihre Zärtlichkeit ließ ihn kalt. Er wunderte sich selbst darüber. Alles Gefühl in ihm wurde überdeckt von seinem maßlosen Zorn. In Wahrheit war er hilflos, wurde er überwältigt von der Erkenntnis: Du kannst gar nicht gehen. Sie haben ja recht: Dreihundert Leprakranke hoffen auf dich. Sie haben zwei Menschen getötet, damit dreihundert leben können. Wenn du sie allein läßt, tötest du sie alle. »Hol deine Sachen aus meinem Haus und verschwinde!«
»Ich gehorche, Chandra.« Sie legte die Arme gekreuzt über die Brust und verbeugte sich tief wie eine Sklavin. »Aber ich liebe dich.«
»Vergiß es! Vergiß es ganz schnell! Ich habe es schon vergessen.«
»Das ist nicht wahr, Chandra.«
»Es ist wahr!« schrie er unbeherrscht.
»Je lauter der Ton, um so größer die Lüge«, sagte sie demütig.
»Wie soll ich dir beweisen, daß es zu Ende ist? Willst du aus dem Haus geprügelt werden?«
»Du kannst mich niemals schlagen, Chandra.«
Das stimmt, dachte er. Ich habe mich mit Männern herumgeprügelt, daß die Fetzen flogen, mit Seeleuten und Hafenarbeitern, Pennern in den Obdachlosenasylen und mit chinesischen Opiumdealern. Frauen aber habe ich nur gestreichelt, selbst die miese Hure in Manaus, die mir die letzten Dollars aus der Tasche klaute.
Er sah sich um. Der Mond war hinter den Wolkenbänken verschwunden und ließ nur ihre Ränder leuchten. Der Marktplatz war dunkel. Man sah die Toten nicht mehr.
»Du suchst die Deutsche?« fragte Siri.
»Ja.«
»Sie wartet an der Kirche. Geh zu ihr.«
»Genau das werde ich! Und wenn du nachkommst, jage ich dich weg wie einen streunenden Hund!« Aber er tat sich nur selber weh.
Was will ich überhaupt? dachte er, als er über die Straße ging. Wegfliegen oder hierbleiben, die Kranken verlassen oder sie heilen, Siri vor die Tür setzen oder weiter diese geheimnisvolle Kraft aus ihrer Liebe nehmen? Vielleicht wußte Bettina einen Ausweg, wenn man mit ihr darüber reden konnte.
Sie saß auf den drei Stufen, die zur Kirchentür führten, und schien auf ihn gewartet zu haben. Ihre Übelkeit hatte sie überwunden – das Grauen keineswegs.
»Sie fliegen also morgen nach Rangun zurück?« fragte sie.
»Ja. Jetzt, da Sie es sagen, weiß ich, daß es das beste ist.«
»Es ist das vernünftigste, Dr. Haller.«
»Ein feiner Unterschied.«
»Aber ein wichtiger.«
Er zeigte auf ihre Seite. »Darf ich mich setzen?«
»Warum nicht?«
»Es ist nicht jedermanns Sache, neben einem Götzen zu sitzen, dem man gerade ein Menschenopfer dargebracht hat.« Er hockte sich neben sie auf die Stufen, fand in der Brusttasche Zigaretten und bot Bettina davon an. Bettina begann mit schnellen, tiefen Zügen zu rauchen. »Sie riechen nach Benzin«, sagte sie.
Haller griff in die Hosentasche. »Mein Taschentuch. Ich habe es mit Benzin getränkt. Damit wollte ich die Krokodile abschrecken. In höchster Gefahr hätte ich es angesteckt und unter die Biester geworfen.«
»Sie glauben nicht an eine Verkettung unglücklicher Umstände?« fragte sie.
»Man hat uns gelehrt, daran zu glauben, daß auf der Hochzeit zu Kanaan aus Wasser Wein gemacht wurde. Daß aus Benzin Wasser wird, kann mir keiner einreden. Es war ein raffinierter Mordversuch. Und er wäre ihnen gelungen. Nur hatten sie nicht damit gerechnet, daß Siri mitfahren würde. Ich allein im Dschungel – ein Regenwurm im Backofen hätte eine größere Chance!«
»Mir ist es rätselhaft, warum man Sie umbringen wollte.«
»Ich bin zu gründlich. Das war schon immer mein Fehler. In der Liebe, beim Saufen, am OP-Tisch und am Krankenbett. Immer eckte ich damit an. Ich war allen unheimlich mit meiner Gründlichkeit. Ihnen doch auch – oder?«
»Ehrlich gesagt,
Weitere Kostenlose Bücher