Engel der Vergessenen
Bettina und Siri in die Medikamentenschränke eingeräumt worden war, reichte aus, um endlich mit einer vernünftigen Behandlung zu beginnen.
Minbya und der Ältestenrat hatten dafür gesorgt, daß jeder in Nongkai es wußte: die schreckliche Zeit der Untätigkeit, des Wartens auf den faulenden Tod war vorbei. Wer jetzt noch lebte, durfte weiterleben. Selbst die schweren amputierten Fälle hatten noch eine Chance.
»Die erste Gruppe ist in Homalin gelandet«, sagte Dr. Karipuri, »und trifft morgen hier ein. Major Donyan hat gerade angerufen. In Homalin liegt auch die Post. Ihre Ernennung zum Chefarzt. Gratuliere, Herr Kollege. Eine Blitzkarriere. Von der Gosse zum Chefsessel. Das soll Ihnen einer nachmachen.«
»Es ist schon mal jemand aus dem Fenster geflogen«, sagte Haller ruhig. »Damit begann sogar ein dreißigjähriger Krieg. Unserer wird kürzer sein. Übrigens: Ich bin Chefarzt der Chirurgie. Was ich jetzt hier mache, ist die Aufgabe des Internisten. Das sind Sie! Holen Sie Ihren weißen Kittel und machen Sie weiter!«
»Um diese ewigen Auseinandersetzungen zu beenden, bin ich hier. Ich habe einen Vorschlag, Herr Kollege.«
»Ich höre.«
»Ich schlage eine genaue Teilung vor. Nicht Chirurgie oder Innere, sondern bei den Patienten. Sie haben im alten Nongkai Ihren festen Patientenstamm. Behalten Sie ihn. Die Neuen, die ankommen, übernehme ich allein mit den uns zugewiesenen Kollegen. Wir wollen uns nicht immer anblaffen und im Wege stehen. Wir werden zwei Kliniken erstellen, jede für sich verantwortlich. Sie Alt-Nongkai, ich Neu-Nongkai! Was halten Sie davon?«
»Sie mit sieben Ärzten und neunzehn Schwestern, ich mit zwei Ärzten, zwei Schwestern und vier Pflegern. Nennen Sie das fair?«
»Ich gebe Ihnen zwei Ärzte und sechs Schwestern ab.«
»Einverstanden.« Dr. Haller schüttelte den Kopf. »Sind Sie krank, Karipuri? Sie wollen wirklich arbeiten? Ein ärztliches Duell mit mir?«
»Ihre Selbsteinschätzung ist umwerfend, Herr Kollege.« Karipuri lächelte schief. »Nachdem sich hier ein großer Wandel vollzogen hat, wird Taikky sich mit seiner ganzen Persönlichkeit in die große Aufgabe stürzen. Wir haben Baumaterial für eine neue Klinik angefordert und zugesagt bekommen!«
»Die Mayo-Klinik von Nongkai! Das neue Weltwunder im Dschungel von Nord-Birma! Was ist denn plötzlich in Sie gefahren, Karipuri?«
Der elegante Inder schob die Unterlippe vor. Einen Augenblick sah es so aus, als wolle er Haller anspucken.
»Ich will Ihr Erbe antreten, Haller. Jetzt staunen Sie. Jawohl, ich will davon profitieren, daß Sie Tag und Nacht auf den Beinen sind, daß Sie dieses Duell – wie Sie es nennen – täglich gewinnen, daß Sie hier eine Klinik schaffen, wie sie noch nicht dagewesen ist. Ich weiß, es wird Ihnen gelingen. Aber der Preis, Dr. Haller, der Preis sind Sie selbst. Sie werden in absehbarer Zeit ihre Gesundheit so ruiniert haben, daß Sie rettungslos kaputt sind.« Dr. Karipuri gab sich keine Mühe mehr, seine Schadenfreude zu verbergen. »Ich sage Ihnen das alles, weil ich weiß, daß Sie nicht mehr aufhören können! Und wenn Sie am Ende sind, bin ich der Erbe. Ich brauche nur ein wenig zu warten.«
»Das war eine gute Rede«, sagte Dr. Haller. »Aber sie hat einen Denkfehler: Ich halte durch! Ich habe vor drei Tagen meinen letzten Gin getrunken! Und als Major Donyan abfuhr; habe ich ihn verpflichtet, mich sofort abzuholen und aus dem Land prügeln zu lassen, wenn ich wieder besoffen in einer Ecke liegend angetroffen werde. Er hat freudig zugestimmt. Ich schulde ihm nämlich zehntausend Kyat …«
Dr. Karipuri stutzte. Er kniff die Augen zusammen, und seine Fröhlichkeit war wie weggewischt.
»Hat er Ihnen das gesagt?«
»Aber ja. Wir sind echte Freunde geworden.«
»Donyan ist ein Schwätzer.«
»Aber bis zehntausend kann er zählen.«
Karipuri drehte sich schroff um und ging. Kaum war er weg, stürzten Dr. Adripur und Bettina in das große Verbandszimmer. Nicht Hallers, sondern Siris Gesicht verriet ihnen, daß etwas Gemeines geschehen sein mußte.
»Was war?« fragte Adripur.
»Hat er Sie wieder angegriffen, Dr. Haller?« rief Bettina.
»Aber nein! Er hat nur eine Teilung vorgeschlagen. Er die neuen Kranken, ich das alte Nongkai …«
»Und Sie haben zugestimmt?«
»Natürlich.«
»Das ist doch eine Falle!« rief Bettina.
»Und was für eine!« Adripur legte Haller die Hand auf die Schulter. Der arbeitete ruhig weiter und hob mit einer Pinzette ein zersetztes
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