Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Sie noch eine?«
    »Ja.«
    Haller stieg über die zusammengerollte Siri und ging zu Dr. Adripur. Der junge Inder lag halb entkleidet auf der Decke unter dem Moskitonetz und sah erbärmlich aus. Kalter Schweiß überzog seinen Körper und sammelte sich in den Vertiefungen der Rippenbögen und der Schlüsselbeine.
    »Sie Rindvieh!« sagte Haller. Er steckte sich eine Zigarette an. »Wollen Sie noch vor mir krepieren?«
    »Damit habe ich mich schon abgefunden, Dr. Haller.«
    »Irrtum! Ich habe extra für Sie ein paar Tuberkulose-Killer angefordert. Ich hoffe, daß sie mit der Sendung angekommen sind. Liegekuren, Ruhe, gutes Essen, frische Luft, viel Eiweiß und Vitamine. Ihnen das im Dschungel zu verordnen, wäre idiotisch. Aber das sage ich Ihnen, Adripur: Wenn ich Sie bei Kräften habe, lege ich Sie auf den Tisch und mache eine Lobektomie. Ich wage es! Bis dahin habe ich die Geräte hier.«
    »Das bringen Sie fertig – die erste Lungenoperation im birmesischen Dschungel.« – Adripur lächelte müde.
    »Was ist schon dabei, Ihnen an der Lunge herumzuschnippeln, wenn ich die chirurgischen Voraussetzungen dazu habe? Ob in der Uni-Klinik von München oder in Nongkai – Lunge bleibt Lunge.«
    Sie rauchten die Zigaretten zu Ende und schwiegen dabei. Draußen hörte der Baulärm nicht auf. Zweimal hörten sie in der Nähe Manorons unermüdlichen Kirchenchor, der nun schon seit sieben Stunden herumzog. Jetzt sang er Volksweisen, die Stimme der Landschaft.
    »Lachen Sie mich aus, Dr. Haller?« fragte Adripur plötzlich.
    »Warum?«
    »Ich habe Sorgen wegen der Neuzugänge.«
    »Vierhundert sind eine Menge. Aber es kommen ja sechs Kollegen mit und neunzehn Schwestern. Das ist dann zu schaffen.«
    »Die Zahl ist nicht wichtig. Es ist etwas anderes. Hier in Nongkai haben wir so etwas wie eine Bruderschaft. Alle sind eine große Familie. Viele wohnen seit zehn Jahren hier, haben untereinander geheiratet, Kinder bekommen. Die wenigen Neueinlieferungen in den letzten Jahren wurden einfach aufgesaugt. Aber vierhundert Neue, vierhundert Kranke, von denen wir nicht wissen, wie sie bisher gelebt haben, ein Zuwachs also, der größer ist als die Zahl der Alteingesessenen von Nongkai – das kann eine völlige Veränderung geben. Vierhundert Unbekannte, das sind vierhundert Unsicherheiten. Das alles kommt jetzt auf uns zu, und zwar als Mehrheit.«
    »Es sind Kranke, weiter nichts, Adripur. Kranke, die geheilt werden wollen. Die dankbar sind, wenn man ihnen eine Salbe auf die Geschwüre schmiert oder ihnen eine Injektion in den Hintern verpaßt.«
    »Ich war einmal in einem Hospital in Südindien«, erzählte Adripur, »da lagen neunzehn Cholerakranke. Sie waren so schwach, daß sie nicht kriechen konnten – aber irgendwie schafften sie es doch und erwürgten in einer Nacht zwei Mitpatienten – weil es Parias waren. Man legt einen aus der Kaste der Parias nicht zu anderen Menschen in ein Zimmer. Wir hatten nicht daran gedacht, wir hätten nie für möglich gehalten, daß ein Cholerakranker sich um so etwas kümmern kann. Eine Fehleinschätzung: selbst im Sterben war der Kastengeist noch so stark, daß er aus Sterbenden Mörder machte. Wenn unter diesen neuen vierhundert Kranken nur einer ist, der die anderen mit seiner Meinung überzeugen kann – ein Krachmacher um jeden Preis, Berufsrevolutionär, Rassenfanatiker – was weiß ich! –, dann ist hier der Teufel los. Denken Sie an die Politiker. Eine große Schnauze genügt – und Millionen jubeln!«
    Haller lachte. »Keine Angst! Auch der gefährlichste Politiker hat einen Gegner, vor dem er die Hosen runterläßt: seinen Arzt mit der Spritze in der Hand. Und jetzt wird geschlafen!« Er nahm ihm die Zigarettenpackung ab. »Die behalte ich!«
    Nach zehn Minuten drang durch die Flechtwand Zigarettenduft.
    »Adripur, Sie Gauner«, sagte Haller, »wieviel Packungen haben Sie noch?«
    »Noch zwei. Von den Soldaten. Pala hat sie organisiert.«
    Haller zog die nackte Siri an sich. Ihre warme glatte Haut war herrlich.
    »Gute Nacht, mein Junge!« rief er hinüber.
    »Gute Nacht, Dr. Haller«, sagte Adripur.
    Draußen zog Manorons Kirchenchor noch immer herum, und die Axthiebe hallten aus dem Dschungel.
    Nach drei Tagen standen vierzehn Hütten.
    Karipuri besichtigte sie und kam dann zu Haller ins Hospital. Es war Sprechstunde der Ambulanten, in langen Reihen standen die Leprösen bis draußen. Noch waren nicht alle dreihundert Kisten und Kartons ausgepackt, aber was bisher schon von

Weitere Kostenlose Bücher