Engel der Vergessenen
hieß.
»Sie sind ja wieder betrunken«, sagte Bettina, als Haller zu ihr trat. Der letzte Lastwagen war fast entladen. Die Kisten und Kartons wanderten durch die lange Reihe der Patienten und wurden im Hospital von Dr. Adripur, Pala und drei Pflegern in der Apotheke, im Verbandszimmer und auf dem Flur gestapelt. »Aber bitte«, fuhr Bettina fort, »heute steht Ihnen ein Schnaps zu. Nach diesem Erfolg!«
»Sie sehen mich zu ideal, Bettina.« Haller lehnte sich an den Lastwagen. »Ich saufe aus Kummer. Aber das erkläre ich Ihnen später. Nur eins: Sie wußten vor einer Stunde noch nicht, was hier passiert. Sie mußten damit rechnen, zusammengeschossen zu werden. Trotzdem blieben Sie bei den Kranken.«
»Sie auch, Dr. Haller.«
»Ich habe nichts zu verlieren. Aber von Ihnen verlangt keiner ein nutzloses Heldentum. Vertrauen Sie nicht auf das rote Kreuz auf Ihrer Brosche und auf Ihre weiße Schwesterntracht. Das nutzt Ihnen im Augenblick der allgemeinen Auflösung gar nichts. Sie hatten die Möglichkeit, Nongkai zu verlassen und draußen zu warten, bis die Truppen kommen. Keiner hätte Ihnen das verübelt.«
»Siri ist auch nicht gegangen …«
»Das stimmt«, sagte Haller leise. »Sie wäre nie gegangen.«
»Und warum sollte ich es tun?«
Sie sahen sich an, eine ganze Weile, schweigend und forschend.
»Bettina«, sagte er plötzlich, »Bettina, begeh bloß nicht den Fehler und häng dich an mich!«
Er wandte sich ab und ging schnell ins Dorf. Sie nahm den letzten Karton in Empfang, reichte ihn weiter in die Menschenkette und zwang sich, Haller nicht nachzublicken.
Er sucht einen Halt, dachte sie. Er klammert sich überall fest, aber was er auch anfaßt, alles reißt unter seinen Händen weg. Er ist der Einsamste unter den Einsamen. Trotz Siri und trotz seiner ihn anbetenden Kranken. Er ist ein Mensch, der unendlich viel Liebe braucht. Wer kann ihm soviel Liebe geben?
Vor dem Hospital traf Haller auf Minbya. Er stand am letzten Mann der Kette, dort, wo die Kisten und Kartons im Inneren des Hospitals verschwanden, und zählte mit. Auf ein dreckiges Blatt Papier machte er Striche und Kreuze. Er führte Buch.
»Wie lange dauert der Bau einer Hütte, Minbya?« fragte Haller.
Der Bürgermeister sah ihn erstaunt an. »Wenn viele Hände daran arbeiten und wenn wir genug Holz und Bambus haben – zwei Tage, wenn es eine einfache Hütte sein soll. Sollen wir Ihnen eine bauen? Das wird eine Woche dauern, aber es wird die schönste Hütte im Umkreis von tausend Meilen sein.«
»Ich brauche in zehn Tagen vierzig Hütten.«
Minbya lachte. »Ein Monat hat höchstens einunddreißig Tage, Doktor. Für jeden Tag eine Hütte – das sind einunddreißig.«
»Vierzig, Minbya! In zehn Tagen ist Nongkai eine Stadt. Eine Stadt der Vergessenen und Abgeschriebenen. Es werden über vierhundert neue Kranke kommen. Ich weiß nicht, wohin damit. Ich weiß nur, daß es eine Katastrophe gibt, wenn wir nicht …«
»Wo sollen die Hütten stehen, Doktor?«
»Von mir aus verteilt am Drahtzaun entlang. Wir haben Platz genug.«
»Vierzig Hütten …« Minbya blickte auf seine knotigen Hände. »In zehn Tagen. Wir werden arbeiten, bis wir umfallen. Alles, was Hände hat, wird arbeiten, Doktor. Die Greise und die Kinder. Jeder Finger kann etwas tun.« Am Abend schon begann das große Bauen.
Die Soldaten hatten vor dem Dorf ein Lager aufgeschlagen. Feuer loderten zwischen den Zelten, die Wagen waren zu einer Wagenburg zusammengestellt worden. Major Donyan wohnte im Verwaltungsgebäude. Er war von Taikkys Gastfreundschaft überrollt worden und leicht angetrunken. Da auch alle Außenkommandos, die kräftigen, gesunden Söhne lepröser Eltern, nach Nongkai gekommen waren, um das Dorf zu verteidigen, hatte Minbya eine Mannschaft zusammenstellen können, die an zehn Stellen zugleich mit dem Aufbau der Hütten beginnen konnte.
Hatte man vor einigen Stunden noch Kisten geschleppt, so waren jetzt Kolonnen unterwegs, um aus dem Dschungelwald Holz zu schlagen und Bambus zu schneiden. Kinder und Frauen saßen vor den Hütten und drehten aus Lianen dicke, unzerreißbare Taue oder spleißten den Bambus, um daraus wandhohe Matten zu flechten. Bis zum Wald stand eine lange Reihe von alten Männern und Kindern und hielt mit Öl getränkte Holzfackeln in den Händen. Hinter dieser Flammenmauer hallten die Äxte, schleppten die starken Burschen die Stämme ins Dorf, knirschten auf dem Marktplatz die alten, schartigen Sägen. Eine andere Truppe pflückte
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