Engel der Vergessenen
Stolz auf?
Haller schluckte es. Es ging um mehr als um ein paar Ohrfeigen für Taikky. Hinter sich hörte er plötzlich Unruhe. Das breite Lächeln in Karipuris Gesicht verhieß ihm eine neue Überraschung. Schnell drehte er sich um und ging an die Brüstung der Veranda.
Seine zehn Leibwächter hatten sich zusammengerottet. Ihnen gegenüber, von den neuen Hütten her kommend, standen zwanzig kräftige Männer. Unter ihnen ein Riese, das Gesicht voller Knoten. Ohne zu fragen, wußte Haller, daß das Bano Indin war, der Gegenbürgermeister. Haller ging zum Tisch zurück. »Ist das Ihre Bande?« fragte er.
Karipuri nickte freundlich. »Sie haben Ihre Leibgarde, ich habe meine. Sie reden immer vom gleichen Recht. Praktizieren wir es jetzt mal! Sie haben Ihren Bürgermeister, ich habe meinen. Was wollen Sie eigentlich, Haller? Sie haben Nongkai lange genug tyrannisiert. Ich werde Ihnen zeigen, daß es auch anders geht.« Er nahm sein Glas und trank es leer. »Um Ihnen eine weitere Stütze für das Korsett zu liefern, das Sie brauchen werden: Von den vierhundertzweiunddreißig Neuzugängen sind dreihundertsiebenundachtzig Buddhisten! Die anderen sind Heiden, nur drei getaufte Christen befinden sich darunter. Ich trete sie Ihnen gern ab. Sie sind doch nur Fremdkörper in einer sonst homogenen Masse. Es wird also ein buddhistisches Nongkai geben, und wir werden einen schönen Tempel bauen. Ihr Geblase vom Kirchendach betrachten wir ab sofort als eine Beleidigung unseres religiösen Gefühls. Birma ist buddhistisch, und wir haben kein Interesse, in einer Leprakolonie religiöse Spannungen zu erzeugen. Minderheiten müssen sich fügen. Das ist ein altes Gesetz. Sind Sie anderer Ansicht, Dr. Haller?«
»Bis heute lebten hier alle Religionen friedlich nebeneinander. Alle hatten gleiche Rechte.«
»Das klingt ja geradezu kommunistisch!« sagte Taikky. »Als Verwaltungsbeamter bin ich auch für die Sicherheit in Nongkai verantwortlich. Die veränderten Mehrheitsverhältnisse zwingen mich zu Maßnahmen, Dr. Haller: Keine provozierende christliche Religionsausübung mehr!«
»Und vergessen Sie eines nicht«, warf Dr. Karipuri ein. »Sie sind als Arzt hier! Nur als Arzt.«
Es hat keinen Sinn, jetzt zu diskutieren, dachte er. Die nächsten Wochen und Monate werden beweisen, wer der Stärkere ist. Jetzt war er fast stolz, in Nongkai ein ›Engel‹ zu sein.
»Ich erwarte die mir zugeteilten Herren Dr. Kalewa und Dr. Butoryan in einer Stunde in meinem Zimmer im Hospital«, sagte Haller förmlich. »Die sechs Schwestern melden sich bei Schwester Bettina.«
Er drehte sich um und verließ die Terrasse.
»Ein unangenehmer Mensch!« hörte er Dr. Kalewa sagen. Und der kleine, runde Dr. Butoryan rief mit heller Stimme: »Wenn er so arbeitet, wie er auftritt, hätte er besser Schlächter werden sollen!«
Wir werden sehen, dachte Haller. Meine lieben Kollegen – am OP-Tisch ist die Stunde der Wahrheit. Da hilft kein Rassenstolz und kein Vorurteil.
Auf der Straße standen sich die Gruppe Haller und die Gruppe Karipuri noch immer abwartend gegenüber. Dr. Haller schob seine Leute zur Seite und ging allein, die Hände in den Hosentaschen, auf das Schlägerkommando zu. Der Riese senkte den Kopf wie ein Stier.
»Kannst du Englisch?« fragte Dr. Haller.
Der Riese nickte. Er war zwei Köpfe größer als Haller und fast doppelt so breit in den Schultern. Ein Elefant mit menschlichen Zügen.
»Du bist Bano Indin?« fragte Dr. Haller weiter.
»Ja. Der neue Bürgermeister.«
Der Riese besaß eine Stimme, die wie aus einem Trichter gebrüllt klang. Haller betrachtete den kugeligen Kopf mit den wie Hörner aussehenden Lepraknoten.
»Du wirst dich beeilen müssen mit deiner Regierung, Indin«, sagte Haller ruhig. »Du hast nicht mehr viel Zeit. Deine Krankheit sitzt dir so auf dem Kopf, daß – wenn sie aufplatzt – auch dein Gehirn mit herausfließt. Dann landest du bei mir. Aber ich kann Finger, Ohren, Nasen, Zehen, Hände, Füße und ganze Körperteile wegschneiden, und man lebt weiter. Einen Mann mit einem abgeschnittenen Kopf habe ich noch nie weiterleben sehen.«
Er ließ den sprachlosen Riesen stehen, ging mitten durch seinen Schlägertrupp hindurch und schlenderte fröhlich pfeifend an den neuen Hütten vorbei. In einem großen Bogen konnte er dann zum Marktplatz zurückkommen.
Bano Indin starrte Dr. Haller nach, knirschte mit den Zähnen und stampfte dann auf Hallers Leibgarde zu.
»Stimmt das, was er sagt?«
»Es stimmt
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