Engel der Vergessenen
Patienten genug zu tun.
Aber schon am sechsten Tag begannen die Schwierigkeiten. Minbya und eine Abordnung des Ältestenrates erschienen bei Haller. Sie machten sorgenvolle Gesichter.
»Dr. Karipuri ist dabei, eine eigene Stadt zu gründen«, sagte Minbya. »Wer ist der gewählte Bürgermeister von Nongkai? Ich! Wer wählt? Das Dorf und die Ältesten. Ich habe Boten in die neuen Häuser geschickt, um eine neue Versammlung einzuberufen. Mehr Leute, mehr Vertreter im Rat. Das ist demokratisch. Und was antworten uns die Neuen? ›Wir haben unsere eigene Verwaltung. Der Chefarzt hat Bano Indin zum Bürgermeister ernannt.‹ Ich gehe hin zu Indin und sehe ihn mir an. Ein Lump, Doktor, sage ich! Ein Verbrecher, der die Lepra hat, also ein armer Mensch ist – aber er bleibt doch ein Verbrecher. Er lacht mich aus, nennt mich ein nasenloses Schwein! Ich bin ein kleiner Mann, er ist ein großer Mann, größer noch als Sie, Doktor. Was sollte ich machen? Deshalb sind wir hier. Was soll geschehen? Ist das hier Nongkai oder Karipuri-Dorf? Wo ist die Ordnung hin?«
Haller nickte. Dr. Adripurs Ahnungen bewahrheiteten sich. Karipuri und Taikky hatten zum Bruderkampf aufgerufen. Die Lepra genügte nicht zur Hölle, der Haß mußte noch dazukommen. Und die armen Kranken waren das ahnungslose, willige, den Ärzten blind vertrauende Werkzeug.
»Ich werde das klären, Minbya«, sagte er. »Aber ihr müßt euch darauf einrichten: Die Brüderlichkeit unter den Ausgestoßenen ist vorbei! Ihr werdet nicht nur an eurer Krankheit zu tragen haben.«
Eine Stunde später marschierte Haller mit seiner Leibgarde zum Verwaltungsgebäude. Dort saßen in großer Runde Taikky, Dr. Karipuri und die neuen Ärzte und aßen Taikkys geliebtes Obst. Karipuri schien auf Hallers Kommen gewartet zu haben. Laut sagte er:
»Meine Freunde, was ihr da mit einer Mannschaft von Schlägern heranwalzen seht, ist der Chefarzt der Chirurgie, Dr. Haller. Der Engel von Nongkai!« Er lachte laut, und die Ärzte sahen ihn erstaunt an und fielen in sein Lachen ein.
»Sie haben Probleme?« rief Karipuri mit höhnischer Freundlichkeit Haller entgegen. »Soll Ihnen einer der Herren das Narkosegerät erklären? Es ist ein Anästhesist dabei, nicht wahr, Dr. Kalewa?«
Ein hochaufgeschossener Birmese nickte und lachte. Aber er hielt sich noch mit Worten zurück. Was Taikky und Karipuri in den vergangenen Tagen von diesem Deutschen erzählt hatten, klang doch eigentlich wie eine raffiniert ersonnene Geschichte: Ein Weißer kommt zu hilflosen Leprösen und macht sie durch billige Mätzchen zu seinen willenlosen Sklaven.
»Das Narkosegerät wird in zwölf Wochen ein Problem, wenn nämlich die Flaschen leer sind. Wo kommt Ersatz her? Aus Rangun? Dann können wir das Lachgas gleich jetzt in die Luft blasen.« Dr. Haller ging die Treppe hinauf, seine Leibwache blieb unten stehen. Er sah sich um. »Ich brauche mich den Herren wohl nicht vorzustellen. In Ihren Gesichtern sehe ich, daß Sie mich zu kennen glauben. Das ist ein Irrtum, meine Herren. Ich bin auch nicht gekommen, um im trauten Kollegenkreis Witze zu erzählen, sondern um Forderungen zu stellen.«
»Das sind wir gewöhnt, Dr. Haller.« Dr. Karipuri lehnte sich zurück. Er wird immer idiotischer, dachte er zufrieden. Dieses Auftreten zerstört alle Sympathie für ihn, noch bevor er sich richtig bekannt gemacht hat. »Was mißfällt Ihnen jetzt schon wieder? Sind die Rohre für die Darmspülungen zu dick? Kann ich mich so irren? Wo doch bei Ihnen jeder dem anderen in den Hintern kriecht …«
Taikky lachte meckernd und schlug sich auf die Schenkel.
»Sie haben mir zwei Ärzte und sechs Schwestern versprochen.«
»Ist schon geregelt. Dr. Kalewa und Dr. Butoryan kommen zu Ihnen.«
Der lange Anästhesist und ein kleiner, dicker Arzt mit Hornbrille nickten Haller zu. Aber sie erhoben sich nicht, sie blieben sitzen. Komm du zu uns, hieß das.
»Ich brauche noch zehn Betten.«
»Ich vierzig.«
»Wie ist die Verteilung der ankommenden Medikamente?«
»Paritätisch.«
»Wer regelt die Verteilung und Berechnung?«
»Ich!« sagte Taikky gemütlich. »Das ist ganz allein mein Gebiet. Die gesamte Versorgung obliegt der Verwaltung. Ich denke, Sie haben sich eingedeckt, Dr. Haller?«
»Ich denke an später, Taikky.«
»Später!« Taikky machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wie können Sie von später reden?«
Das war überdeutlich. Die Ärzte starrten Haller an. Was wird er tun? Schluckt er das? Oder bäumt sich sein
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