Engel der Vergessenen
immer alles, was er sagt.«
»Und Dr. Karipuri?«
»Frag ihn selbst!«
»Er hat mich zum Bürgermeister gemacht und mir dreihundert Kyat geschenkt.«
»Dann bleib Bürgermeister und schmier dir mit den dreihundert den Kopf ein!«
Bano Indin knurrte, winkte seiner Bande und marschierte zurück in das neue Dorf. Bald würde ihn die Angst völlig umklammert haben.
In der Klinik warteten Minbya und seine Ältesten. Sie umringten Dr. Haller, als er zurückkam, und sprachen alle auf einmal.
»Was ist?« schrie Minbya. »Was haben Sie erreicht?«
»Es bleibt alles, wie es ist, Minbya. Und wenn in ein paar Tagen oder Wochen Bano Indin bei dir erscheint, wirf ihm nicht gleich eine Axt an den Kopf. Gib ihm ein Schnäpschen und höre ihn geduldig an. Er wird in großer Not kommen.«
Später, nach der Visite, fragte Bettina: »Was ist nun wirklich wahr, Dr. Haller?«
»Krieg! Aber ein latenter.«
»Guerillakampf in Nongkai!« sagte Dr. Adripur. »Das ist fürchterlich.«
»Ein Zermürbungskrieg der kleinen Schritte, weiter nichts. Haben Sie Angst, Sabu?«
»Ja, Dr. Haller. Wir werden in ein paar Monaten mit Messern und Pistolen schlafen müssen.«
»Vielleicht.«
Dr. Haller beugte sich über die Akten und Krankengeschichten der Neuzugänge. In ein paar Monaten, dachte er. Da schlafe ich vielleicht steif wie ein Brett, und Bettina muß mich füttern und Siri mir den Hintern abwischen wie einem Säugling.
»Ruht euch aus!« sagte er. »Es bleibt alles beim alten. Wann ist Sonntag?«
Bettina blickte verwundert zu Dr. Adripur und Siri hinüber.
»Übermorgen.«
»Am Sonntag gehen wir alle in die Kirche und singen. Sie auch, Adripur, obwohl Sie Brahmane sind.«
»Wenn Sie gehen – natürlich.«
»Ich gehe. Und ob ich gehe! In der ersten Reihe werde ich sitzen. Ich habe eine schöne Stimme, Kinder, das wißt ihr noch nicht. Erster Bariton im Ärztechor von Hannover. Ihr werdet staunen!«
Es geschah nichts. Es blieb wirklich alles beim alten.
Nur die Spaltung in Nongkai-Alt und Nongkai-Neu vertiefte sich deutlich. Man tat sich gegenseitig nicht weh, aber man vermied auch jeden näheren Kontakt. Minbya regierte weiter demokratisch mit seinem Ältestenrat. Bano Indin herrschte absolutistisch mit seiner Schlägertruppe und überzeugte durch Fußtritte und Faustschläge. Karipuri drückte beide Augen zu.
Aber man begann einen buddhistischen Tempel zu bauen.
Der Sonntag ging vorüber ohne Krieg. Manoron blieb das Wort im Halse stecken, als er Dr. Haller in der ersten Reihe sah. Die kleine Kirche war brechend voll, bis weit auf die Straße standen die Gläubigen und Neugierigen. Es hatte sich schnell herumgesprochen: Der Doktor besucht die Kirche. Das tut er nicht ohne Grund.
Als gesungen wurde, war Hallers Stimme allen überlegen. Er wußte sogar noch zwei Kirchenlieder auswendig und dröhnte sie herunter, als müsse er eine Orgel ersetzen. Manoron betete an diesem Sonntag besonders inbrünstig und fragte Gott, was das alles zu bedeuten habe.
Auch Bettina fragte danach. »Sie haben doch etwas vor, Dr. Haller. Sie gehen in keine Kirche, um vor Gott demütig zu sein. Sie nicht! Was ist also los?«
»Ich bin vielleicht demütiger als ein Kardinal.« Haller steckte sich eine Zigarette an. »Ich habe heute Gott zum Bundesgenossen gewonnen.«
»Wie kann man nüchtern betrunken sein?«
»Ich habe auf etwas gewartet, Bettina. Nein, nicht auf den Heiligen Geist in Gestalt einer weißen Taube, sondern auf einen Knüppel aus dem Sack! Vielleicht war es noch zu früh. Warten wir den nächsten Sonntag ab.«
Aber es kamen noch viele Sonntage, und nichts geschah.
Der sehr reserviert wirkende Dr. Kalewa erwies sich als ein guter Anästhesist. Dr. Butoryan, der kleine Dicke mit der Hornbrille, war ein langsamer, aber gründlicher Arzt. Seine Spezialität war es, die Kranken mit eindeutigen Witzen zum Grinsen zu bringen. Auch Lepröse am Rande des Marasmus lachen gern. Aber wenn Dr. Haller auftauchte, hörte Dr. Butoryan sofort auf und wurde steif und dienstlich.
Bei einer Arztbesprechung sagte Haller: »Meine Herren Kalewa und Butoryan. Ich bin von Ihnen angenehm enttäuscht. Sie, Kalewa, sind zu schade für Nongkai. Sie gehören in ein großes Haus …«
»Danke, Herr Haller«, antwortete Kalewa verschlossen.
»Und Sie, Butoryan, sind ein gründlicher Mann und im Witzereißen ein Erzvieh!«
»Danke!« sagte der kleine Dicke.
»Wir alle – Sie, Herr Adripur, Schwester Bettina, Siri und ich – sind ein so herrliches
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