Engel der Vergessenen
Ihr Hospital. Zimmer 5. Da liegt Bettina …«
Hallers Herz stockte einen Schlag lang. Bettina! Er fühlte, wie die Lust, alles zusammenzuschlagen, immer mächtiger in ihm wurde.
»Was ist mit Bettina?« fragte er heiser.
»Das fragen Sie noch?« Karipuri schrie, daß es alle im weiten Umkreis hören konnten. »Vorgestern nacht! Ein Vieh von Mann hat sie vergewaltigt! Jetzt sind Sie dran, Sie Saukerl!«
»Sind Sie verrückt?« stammelte Haller. Bettina. Vergewaltigt? In einem Lepradorf vergewaltigt …
»Spielen Sie nicht weiter den Heiligen!« schrie Karipuri. Er hatte noch Reserven, seine Stimme schmetterte. »Man hat Sie erkannt. Sieben Zeugen haben Sie gesehen, wie Sie zu Bettina ins Haus schlichen!«
Es kommt im Leben selten vor, daß man gar nichts mehr versteht, daß man nicht begreift, warum der Himmel oben, die Erde unten ist, warum die Wurzeln der Bäume nicht in die Wolken wachsen, der Vogel nicht auf dem Rücken fliegt und ein Mensch nicht auf den Händen geht. Dr. Haller hatte es noch nicht erlebt. Aber jetzt fiel er in diesen Zustand absoluter Leere, blieb stehen und starrte Karipuri fassungslos an.
»Was sagen Sie da?« fragte er. Mehr fiel ihm in seiner Ratlosigkeit nicht ein. »Ich? Karipuri … Ich komme doch eben …« Er schüttelte sich, als übergieße man ihn mit kaltem Wasser, als Karipuri neben ihm wieder losschrie.
»Sie leugnen auch noch?« Er warf beide Arme hoch, seine Stimme gellte über die Straße. »Er leugnet es, das Schwein! Er leugnet!«
Jetzt waren Adripur, Minbya und Siri heran, umringten Dr. Haller und drängten Karipuri weg. Aber sie waren allein. Auf der Straße, zwischen den Hütten, auf dem Marktplatz, stauten sich die Menschen, stumme, dunkle Gestalten mit verschlossenen Gesichtern, feindlich, im Blick schon jene Grausamkeit, die niemals verzeihen kann. Das große hölzerne Tor fiel zu. Sofort besetzten zehn bewaffnete Lepröse den Ausgang. Bano Indin, der Riese, erschien vom Marktplatz, hinter sich die Streitmacht des ›neuen Nongkai‹, ein heranstampfender, geschlossener Block aus Rache und Vernichtung.
»Ist denn hier alles verrückt geworden?« sagte Haller laut. Langsam erwachte er aus dem lähmenden Zustand der Leere. »Karipuri, verdammt, hören Sie auf zu brüllen!« Er zog ihn mit einem Ruck an sich heran. »Was ist hier geschehen? Sie erklären es mir jetzt! Ihr Riesenbulle Bano schreckt mich nicht. Machen Sie ihm das klar!«
»Ich würde Ihnen raten, den Chefarzt loszulassen«, sagte Adripur. Dr. Haller ließ Karipuri frei und drehte sich langsam um. Der schlanke, schwindsüchtige Inder sah ihn ernst an. Siri fiel Haller um den Hals und klammerte sich an ihn. Minbya strich sich immer wieder mit beiden Händen über seine Stirn, die Augen und die schwarze Klappe, hinter der er den Überrest seiner zerstörten Nase verbarg.
»Sie auch?« fragte Haller entgeistert. »Auch du, mein Sohn Brutus? Minbya, wo sind meine Leute?«
»Du hast keine Leute mehr, Doktor.« Minbyas Stimme war gebrochen. Auch seine Macht als Bürgermeister von Nongkai schien gebrochen zu sein. So wie Bano Indin herankam, verkörperte er die neue Zeit im Lepradorf. Die Kranken, die noch vor vier Tagen ihre Götter aus Dank für diesen Arzt angebetet hatten, standen jetzt auf der Straße und neben den Hütten und waren bereit, mit Knüppeln auf ihn einzuschlagen.
»Verstehen Sie das, Adripur?« fragte Haller plötzlich sehr müde. Er drückte Siri an sich, legte beide Arme um ihren schmalen, zitternden Körper und blickte über ihren Kopf hinweg auf diese Massierung plötzlicher Feindseligkeit.
»Ja, Dr. Haller.«
»Dann sind Sie geistig beweglicher als ich. Ich verstehe nichts mehr.«
»Sie können nicht verstehen, daß aus einem Engel in vier Tagen ein Satan werden kann?«
»Das ja. Dazu braucht man nicht einmal vier Tage. Aber was soll diese ganze dumme Rederei? Jeder hier weiß doch, daß ich in Lashio war.«
»Warum gehen Sie nicht zu Ihrem Opfer?« brüllte Karipuri so laut, als habe er einen Trichter vor dem Mund. »Haben Sie Angst, im Hellen anzusehen, was Sie in der Nacht angerichtet haben?!«
»Verdammt, wo ist Bettina? Natürlich sehe ich sie mir an. Sofort! Wo liegt sie?« Haller löste Siris Arme von seinem Nacken und schob sie von sich. Karipuri streckte den Arm weit aus.
»Im Hospital! Zimmer 5! Aber kommen Sie wieder heraus! Verstecken Sie sich nicht! Wir holen Sie sonst!«
Bis zum Hospital waren es noch ungefähr hundert Meter Straße, und links und rechts
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