Engel der Vergessenen
mir sympathisch.« Haller steckte die Ginflasche weg. »Los, fahren Sie das letzte Stück in die Hölle.«
Kurz vor der hohen Palisade nahm Adripur die Geschwindigkeit zurück und ließ den Wagen durch das Tor rollen. Dann bremste er abrupt und holte tief Luft.
Vor ihnen öffnete sich die Menschengasse der Leprösen. Blumengirlanden wurden hochgehoben. Die festgestampfte Erde war mit Blüten übersät. Der Rat der Dorfältesten, an der Spitze Bürgermeister Hano Minbya, schritt würdevoll dem Wagen entgegen.
Alle hatten ihre besten Kleider angezogen. Minbya sogar ein Hemd mit Kragen und Schlips, was ihn als Oberhaupt kenntlich machte.
Erstarrt saß Dr. Haller hinter der Frontscheibe und rührte sich nicht. Das ist eine Vision aus Dantes ›Inferno‹, dachte er. Ein Triumphzug verfaulender Menschen.
Dr. Adripur sprang aus dem Wagen. Als Haller sich noch immer nicht rührte, stieß er ihn leicht mit der Faust an. »Wir sind da.« Seine Stimme klang völlig fremd. Auch ihn erschlug diese Manifestation verzweifelter Gläubigkeit.
Dr. Haller stemmte sich aus dem Sitz. Mit steifen Beinen stieg er aus und blieb neben dem Wagen stehen, als suche er Schutz. Aus der Gasse der Kranken wurde jetzt ein Blumenspalier. Sieben junge Mädchen – gesunde Nachkommen von leprösen Eltern – brachten breite Blütenketten und warteten, daß der deutsche Arzt ihnen entgegenkam. Bürgermeister Minbya verbeugte sich tief. »Wir begrüßen Sie, Doktor«, sagte er in seinem merkwürdigen asiatischen Englisch. »Ganz Nongkai ist gekommen, um Ihnen zu zeigen, daß es Sie liebt.«
Dr. Haller tastete an seine rechte Rocktasche. Jetzt trinken, dachte er. Die Flasche leersaugen bis zum letzten Tropfen. Und dann umfallen und nichts mehr hören und sehen. Er blickte in die zerstörten Gesichter dieser lautlos mit Blumen und Girlanden winkenden lebenden Toten.
»Sagen Sie etwas«, flüsterte Dr. Adripur hinter ihm. »Irgend etwas. Nur ein paar Worte. So etwas hat es in Nongkai noch nicht gegeben.«
»Guten Tag!« sagte Dr. Haller heiser. Das ist blöd, dachte er. Etwas Idiotischeres konnte man nicht sagen. Aber ich möchte den sehen, dem jetzt etwas anderes einfällt. »Ich verspreche, euch zu helfen«, fuhr Haller fort und starrte dem Bürgermeister Minbya in das zerstörte Gesicht mit der großen Nasenklappe. »Ich – ich bleibe bei euch.«
Langsam setzte er sich dann in Bewegung, durchschritt die Gasse der stummen, ihn scheu mit ihren Blumengebinden anrührenden Leprösen und wurde durch diese Gasse zum Hospital gelenkt, wo die Schwerkranken in ihren Betten auf der Veranda lagen. Dr. Adripur tastete nach Hallers Hand.
»Begreifen Sie nun, was Sie sind?« fragte er leise.
»Ja und nein. Ich glaube, keiner – weder die in Rangun noch Sie – weiß wirklich, was ich bin. Bringen wir es auf einen Nenner: ein Stück Dreck.«
»Mit Alkohol im Leib.«
»Ohne Alkohol bin ich eine absolute Null!«
»Immer schon?«
Haller sah Adripur mit zusammengepreßten Lippen an. »Vor acht Jahren hatte ich ein Landhaus an der Ostsee, eine Segeljacht, einen Luxuswagen, eine Liste von Geliebten, die ich monatlich abhakte wie ein Pascha seine Haremsdamen. Ich war ein Modearzt, aber ich war auch einer der ersten, der ein künstliches Aortastück aus Teflon einsetzte und eine neue Methode der Seit-an-Seit-Anastomose bei einer Gastroenterostomie entwickelte. Welch ein Wunder, ich kann mich noch daran erinnern!«
Er schüttelte Adripurs Hand ab und betrat die Veranda. Die Kranken mit ihren hölzernen Kopfstützen lächelten ihn an. Siebzehn Fratzen, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatten.
Dr. Haller ging von Bett zu Bett und nickte. »Jetzt bin ich da«, sagte er zu jedem. »Ich will dir helfen – jetzt bin ich da – ich will dir helfen!«
Zwischen Bett zehn und elf blieb er stehen und sah erstaunt das Mädchen in der weißen, gestärkten Schürze an. Dr. Adripur, hinter ihm, beugte sich über Hallers Schulter vor.
»Das ist Siri.«
Haller blickte in die großen schwarzbraunen Augen des Mädchens. Der schöngeschwungene Mund lächelte ihn an, das schmale Gesicht zwischen den langen Haaren, auf denen wie eine Krone das Häubchen saß, blieb unbeweglich, wie aus braunem Jade geformt. Aber dieses Gesicht sprach mit den Augen, und in diesen Augen lag alles, was ein Mensch empfinden kann, wenn Bewunderung und Glück, Hoffnung und jenes rätselhafte Gefühl von plötzlicher Zugehörigkeit von ihm völlig Besitz nehmen.
»Ist man wahnsinnig, solch
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