Engel des Todes
gesungen.
Schöne Erinnerung. Komisch eigentlich, daß sie ausgerechnet jetzt daran dachte, jetzt, da der Tod schon wieder antrat, Schatten auf ihr Leben zu werfen. Ein Nachbar in der Venuskolonie hatte das Wesen in einem Holzkäfig gehalten. Es konnte fliegen – genau! – und hörte sogar auf einen Namen. An den jedoch erinnerte Anna-Luna sich nicht mehr.
Den Namen des Mannes an der Balustrade dagegen hatte sie nicht vergessen: Uwu'nilan Tagalembur. Mit diesen beiden seiner vier oder fünf Namen stand er auf ihrer Honorarliste. Waller Roschen hatte ihn einst angeworben. Das Auffälligste an ihm waren die langen Zehen in den Leichtmetallkettenschuhen, die gefiederten Arme und die langen, spitzen Finger seiner flaumbedeckten Hände; auffällig für denjenigen jedenfalls, der seinesgleichen zum erstenmal zu Gesicht bekam. Anna-Luna war zum zweitenmal auf Taurus, und Uwu'nilan sah sie zum drittenmal. Oft genug für sie, um den Anblick eines gefiederten Mannes normal zu finden. Sie hatte mit Kreaturen zu tun gehabt, deren äußere Gestalt weit gewöhnungsbedürftiger war.
»Hast du die Liste?« Sie beschränkte sich auf die nötigsten Worte.
»Selbstverständlich habe ich die Liste«, flötete Uwu'nilan. »Was dachtet Ihr denn, Hochgeschätzte? In wie vielen Stunden Arbeit habe ich sie erstellt, habe ich sie überprüft, habe ich sie verbessert, habe ich sie der Wirklichkeit, der wahren, angepaßt …!«
Das Wesen im Holzkäfig des Nachbarn auf der Venuskolonie hatte zur Gattung der Vögel gehört. Das wußte Anna-Luna noch. Nur auf wenigen Planeten der Republik gab es solche Vogelartigen; intelligente ihres Wissens nach sogar nur hier auf Taurus. Auf Terra Prima hingegen war die Gattung der Flugfähigen sehr artenreich vertreten. Schwer zu entscheiden übrigens, ob dieses Wissen ein Faktum ihres angelesenen Datenfundus oder ein Teil ihrer persönlichen Erinnerung war.
»… aber ja doch, Hochverehrte! Jedes Wort Eures Befehls war mir gegenwärtig all die Jahre, nichts, was ich vergessen hätte …« Ein Lingusimultaner übersetzte Uwu'nilan Tagalemburs Wortschwall in Terrangelis, die Verkehrs- und Amtssprache der Republik. »… nichts, was ich vernachlässigt hätte, nichts, was ich mißachtet oder für unwesentlich erachtet hätte! Euer Auftrag war mein Leben, Eure Stimme allezeit gegenwärtig, und wenn ich Euch schildern wollte, welche Mühen und welche Gefahren mein Dienst für Euch forderten … sie durften mich ja nicht durchschauen, durften ja keinen Verdacht schöpfen …«
Die tiefe, kehlige Stimme des Taurulers erinnerte Anna-Luna teils an das Gemecker gewisser Paarhufer, teils an das Gluckern von Wasser, wenn Gas an seiner Oberfläche Blasen warf. Seine Atemmaske dämpfte sie zusätzlich. Ohne seinen Redefluß zu unterbrechen, zog Uwu'nilan den Magnetverschluß seines Kettenhemdes auf, eine Art grünmetallenen Harnischs. Er griff hinein und zog eine Rolle aus biegsamem grauen Material heraus. Ein Produkt aus Fischhaut, wie Anna-Luna wußte. Sie griff selbst gelegentlich darauf zurück. »… also, die Liste, hier ist sie, die gute, gute Liste! All die Namen der Verächter, all die Namen der Frevler, der Übertreter, der Verräter, hier ist sie! Treulich erstellt von Eurem ergebenen Diener Uwu'nilan Borus Tagalembur Beldartes von Taurus-Toptaglius …«
Es gehörte zur Mentalität der Leute von Taurus, eine Menge Worte zu machen; immer und um alles. Außerdem gehörte es zu ihrer Mentalität, bei der Absonderung möglichst vieler Worte sich selbst in ein möglichst gutes Licht zu stellen. Fast alle auf Taurus machten das, man mußte das einfach akzeptieren.
Anna-Luna hatte im Prinzip nichts dagegen. Sie war es gewohnt, mit den unterschiedlichsten Völkern umzugehen, humanoiden, nichthumanoiden und halbhumanoiden wie diesem Vogelartigen hier. Dennoch verachtete sie ihn. Nicht wegen seines Wortschwalls, auch nicht wegen seines Hanges, sich selbst und seine Leistungen in den Mittelpunkt seiner Schilderungen zu stellen, und schon gar nicht wegen seiner körperlichen Erscheinung. Sie verachtete ihn, weil sie weder in seinen großen gelben Augen über der Atemmaske noch in seiner Mimik noch in seiner gesamten Körperhaltung ein Anzeichen von Reue oder Trauer oder wenigstens Bedauern erkennen konnte. Dabei wußte er doch genau, was denen bevorstand, deren Namen auf seiner Liste standen.
Anna-Luna verachtete Verräter, obwohl ihre Arbeit ohne Verräter doch ungleich schwieriger gewesen wäre, als sie es
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