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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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reflektierte er, was Tom noch weiter verwirrte. Auch wurden die Schatten unheimlicher. Bei Tage sind Wälder anheimelnd, sie wecken Erinnerungen an Sonntagsspaziergänge, raschelnde Blätter, die warme Hand von Vater oder Mutter oder später die Hand, die man dem eigenen Nachwuchs gibt. Bei Nacht aber zieht der Wald die Samthandschuhe aus und macht deutlich, warum man im Dunkeln nervös wird. Nächtliche Wälder flüstern: »Such dir eine Höhle, Hominide, das hier ist kein Ort für dich.«
    Blind vor Nebel, das Gehirn mit Wodka betäubt, ging er weiter. Das Knacken und Rascheln, das er hörte, verursachte er selbst, das war sicher. Im Nebel waren keine Gestalten, nur die Wassertröpfchen hingen in der Luft, auch das war sicher. Er konnte völlig beruhigt und kaum belästigt weitergehen. Immer weitergehen, bis die Dunkelheit vollkommen war und die Zeit selbst sich vor ihm konturenlos ausdehnte, bis die Gedanken nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, bis die Angst sich um sich selber drehte und immer mehr anwuchs. Er ging rascher und rascher und flüchtete vor etwas, das in ihm selbst steckte.
     
    Der Sturz kam ohne Vorwarnung. Er war energisch durch hüfthohe Sträucher gepflügt und hatte wieder mit einem heftigen Schluckauf zu kämpfen, als er mit dem ausschreitenden Fuß plötzlich ins Leere trat. Da er mit vorgebeugtem Oberkörper ging, um die Zweige beiseite schieben zu können, gab es für ihn kein Halten mehr.
    Mit rudernden Armen und gespreizten Beinen rutschte er einen steilen Abhang hinunter. Erst durch die Kollision mit einem kleinen Baum wurde er gebremst, wobei er Taschenlampe und Schnapsflasche verlor. Durch die Wucht des Aufpralls auf die Seite geworfen, rutschte er über jede steinige Unebenheit den Abhang hinunter. Die Rutschpartie endete damit, dass er knirschend aufs Gesicht fiel. Das gab ihm den Rest.
    Er stöhnte, ein leiser, verzweifelter Laut. Sobald er es konnte, wuchtete er den Rucksack von der Schulter und ließ sich auf den Rücken rollen. Der Schmerz in der Brust war so heftig, dass er unwillkürlich ein Pfeifgeräusch machte. Das tat ungleich mehr weh als das Ausgleiten neben dem Auto. Ihm war, als habe ihm jemand einen Speer in die rechte Flanke gebohrt und ermuntere nun ein Kind, sich an das Schaftende zu hängen und sich baumeln zu lassen. Die Hoden taten ihm ebenfalls weh, der Schmerz brannte im Unterleib und zehrte an ihm.
    Nach einer Weile setzte er sich auf. Er tastete die rechte Körperseite hinab, fand aber nichts, was herausgeragt hätte. Dann sah er die Taschenlampe. Sie lag etwa drei Meter von ihm entfernt auf dem Boden und schimmerte matt durch das Gestrüpp. Er robbte über den kalten Erdboden, um die Lampe zu holen. Manches sah er doppelt, doch da dies schon seit Stunden der Fall war, beunruhigte es ihn nicht über Gebühr.
    Sich seine Lichtquelle wiederzubeschaffen schien ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Offenbar war er in ein breites, steiniges Flussbett gefallen, durch das im Frühjahr Ströme von Schmelzwasser zu Tal gingen, jetzt aber nur ein dünnes Rinnsal floss, das er ein paar Schritte entfernt hören konnte. Ansonsten war es still, sehr still und sehr kalt.
    Nun, für heute Abend war er genug gegangen. Und ein Morgen musste es nicht unbedingt geben. Die Schule ist ein bisschen früher aus, weiter nichts.
    Er rutschte nach hinten, bis er mit dem Rücken gegen Felsen stieß. Dann zog er den Rucksack an seine Knie heran und machte ihn auf. Mindestens eine der verbliebenen Flaschen war zerbrochen, der Boden des Rucksacks triefte, es zeichneten sich darin scharfe Splitter ab, und Alkoholgeruch stieg auf. Er leuchtete mit der Lampe hinein, sah aber nichts, wohin er mit der Hand greifen konnte. So schüttete er den Inhalt einfach auf den Boden. Nach einer Weile fand er die Schachteln mit den Schlaftabletten.
    Während er umständlich die Tabletten einzeln aus der Plastikumhüllung drückte und auf einem praktischerweise gleich hier liegenden Blatt aufstapelte, ging er noch einmal seine innere Checkliste durch.
    In der Gegend verirrt, abgehakt.
    Total betrunken, ja, weiß Gott. Dick und mit Rotstift abgehakt.
    Er hatte die Motelrechnung bezahlt und nebenbei erwähnt, dass er wieder hinauf nach Seattle fahren wolle. Abgehakt.
    Dass jemand bei dieser Kälte irgendwo hier draußen wandern könnte, dürfte keinem Menschen einfallen, noch dazu unter der Woche und außerhalb der Saison. Außerdem hatte er sich abseits der Wanderwege gehalten.

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