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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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das lästige Gestrüpp, das an seinen Jeans und seiner Jacke zerrte, zu schaffen. Die Bäume waren ziemlich hoch und wuchsen, wo es ihnen passte. Hin und wieder kam er an kleine Wasserläufe. Anfangs sprang er darüber, aber da sein Knöchel immer stärker schmerzte, verlegte er sich darauf, Umwege zu machen, um bequemere Stellen zu finden. Manchmal sprach er zu sich selbst. Die meiste Zeit blieb er stumm und sparte seine Puste. Je rascher er ging, desto weniger musste er sich konzentrieren. Als die Flasche leer war, warf er sie weg und ging weiter. Nach hundert Metern merkte er, dass das rüpelhaft gewesen war. Er machte sich auf die Suche nach der Flasche, konnte sie aber nicht mehr finden, woraus er schloss, dass er seine Sache gut machte. Er war nun sehr betrunken und weit vom Weg ab. Er marschierte eisern weiter, ein Pflug, der immer tiefer in den Wald vordrang. Ausgiebiges Studium von Wanderkarten hatte ihn gelehrt, dass sogar Holzwege in dieser Gegend selten waren. Sein Orientierungssinn war, wie er aus Erfahrung wusste, ziemlich gut, wenngleich nur in städtischem Milieu. Er wusste aber auch, wie schwach er war, wie leicht er sich von plötzlichen Anwandlungen fortreißen ließ und an Orten landete, an die er gar nicht wollte. Plötzlich war dann alles wie weggeblasen, und er stand da, mit Blut an den Händen. Deshalb war es so wichtig, sich zu verirren. Sonst würde er es sich wieder anders überlegen. Er würde Vorwände zum Aussteigen suchen und schließlich aufgeben, und was gab es Erbärmlicheres, als den eigenen Selbstmord zu vermasseln.
    Tom Kozelek war in den Nordwesten gekommen, weil er nicht länger in Los Angeles sein wollte. Er hatte halb betrunken in L.A. auf dem Flughafen gestanden und sich für Seattle entschieden, weil er dort unlängst geschäftlich zu tun gehabt hatte und ein gutes Hotel kannte. Er blieb dort nur eine Nacht und fuhr dann nach Osten in die Cascade Mountains. Die Landschaft ist einmalig. Hohe Bergspitzen, schwindelerregende Schluchten und gezackte Felsen in allen Grautönen. Sogar ein bisschen Geschichte gibt es da, von der Sorte »Und dann rodeten sie noch mehr Wald«. Aber Straßen gibt es nur wenige, und die Berge sind im Allgemeinen so geblieben, wie sie schon immer waren. Wenn man kein bestimmtes Ziel hatte – und das hatte Tom nicht –, dann konnte man leicht denken, dass es dort überhaupt nichts zu sehen gab. Er reiste zwei Tage lang aufs Geratewohl durch kleine, kalte Städtchen und verbrachte die Abende in Motelzimmern vor abgeschaltetem Fernseher. Er rief dort an, wo einmal sein Zuhause gewesen war. Sein Anruf wurde entgegengenommen, was die Sache nur schlimmer machte. Er hatte eine kurze Unterhaltung mit seiner Frau und den Kindern, dabei fiel kein böses Wort. Noch schlimmer. Manchmal ist Vernünftigkeit das Letzte, was man brauchen kann, denn wenn sich alle wie Erwachsene benehmen und das Leben dennoch in Scherben liegt, wohin soll man sich dann wenden?
    Schließlich kam er in eine Stadt namens Sheffer und vergrub sich da. Sheffer bestand nur aus einer Hauptgeschäftsstraße und fünf Querstraßen, hinter denen sich schon bald die dicht mit Tannen bewachsenen Ausläufer der Cascade Mountains erhoben. Nur ein paar schmucke Bed&Breakfast-Pensionen und ein Hippie-Café mit guten Weizenmehl-Cookies und fünf zerlesenen Exemplaren von
The Bridges of Madison County
erweckten den Eindruck, dass Leute auch mit Absicht hierher kamen. Ferner gab es noch ein kleines Eisenbahnmuseum (geschlossen) und ein Stück Schienenstrang entlang der Hauptstraße, wo Waggons vor sich hin rosteten. Jetzt, außerhalb der Saison, schien das Städtchen die Bürgersteige hochgeklappt zu haben. Hin und wieder kamen Einheimische aus der Versenkung und kämmten sich das Moos aus dem Haar.
    Vier Tage vor seiner Waldwanderung saß Tom am Tresen von Big Frank’s, von den drei Kneipen in Sheffer diejenige, die am wenigsten nach Sanatorium roch, und schaute sich die Fernsehübertragung einer ausländischen Sportart an, deren Regeln ihm nicht wirklich bekannt waren. Er fühlte sich hier draußen auf dem Territorium der Injun seltsam beruhigt. Er war dreiundvierzig Jahre alt, also erwachsen genug. Er besaß mehrere Kreditkarten und hatte ein Auto zur Verfügung. Hier war niemand, der ihn durch Erwartungen oder Kenntnisse über seine Person einengte. Er konnte, wenn ihm das gefiel, behaupten, er heiße Lance, sei ein ehemaliger Kampfbomberpilot und nun durch eine Internetfirma zum Millionär

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