Engel des Vergessens - Roman
Morgen fahren wir über den Seebergsattel und bleiben am Grenzübergang stehen. Ich halte dem jugoslawischen Zollbeamten meinen ersten Reisepass hin. Er spricht kroatisch oder serbokroatisch und will uns den Eindruck vermitteln, dass wir an der Grenze eines besonderen Staates stehen, der alle Reisenden genau überprüfen müsse. Smrtnik übernimmt die Verständigung, weil er Erfahrung mit den Grenzbeamten hat. Nachdem wir die Grenze passiert haben, erzählen die männlichen Wallfahrer Grenzabenteuer aus früheren Zeiten. Mich beeindruckt daran nur, dass unser Nachbar Peter, den ich gut kenne, in mehreren Nächten das Skelett eines Höhlenbären von der Olševa in einem Korb über die Grenze geschmuggelt haben soll, aber das sei noch vor dem Krieg gewesen.
Die Kirche in Brezje ist überfüllt. Wir drängen uns mit den Betenden zum Altar, auf dem eine gemalte Madonna mit Krone und Zepter thront. Ein paar Frauen werfen sich auf die Knie und rutschen kniend um den Opfertisch. Ich mache es ihnen nach und denke, dass ich die schmutzigen Strümpfe in Kauf nehmen müsse, um meinen Bitten Nachdruck zu verleihen. Großmutter kniet nieder, bekreuzigt sich und steht dann auf. Jemand überlässt ihr einen Platz in der Kirchenbank. Während der Messe trete ich ungeduldig von einem Bein auf das andere und überlege, was in den Köpfen der Betenden und Singenden vorgeht. Schließlich setze ich mich auf Großmutters Schoß. Sie zwickt mich in den Oberschenkel, um mich auf mein Gezappel aufmerksam zu machen. Wenn du weiterhin so unruhig bist, werde ich dich das nächste Mal nicht mehr mitnehmen, droht sie.
Als wir nach der überlangen Messfeier ins Freie treten, kommt mir das Außen wie ein strahlender, hoher Kirchenraum vor und das Innere der Kirche wie eine kleine Zelle, in der man sich nach draußen gesehnt hat, wie man vorher in das Halbdunkel geströmt ist, um darin Läuterung zu finden. Auf dem Platz vor der Kirche gehen wir an Verkaufsständen vorbei. Großmutter kauft Rosenkränze und Kochlöffel aus Holz. Ich bekomme ein Päckchen Kekse und ein Andachtsbildchen mit einem Foto der Kirche, über der in einer kleinen runden Wolke Marija aus Brezje schwebt.
Im Gasthaus am anderen Ende des Vorplatzes wird uns ein Tisch in der großen Stube zugewiesen. Wir setzen uns unter das gerahmte Foto des Staatspräsidenten, der mit Schiffchenmütze, an deren Stirnseite ein roter Stern prangt, von der Wand herunterschaut. Smrtnik behauptet, indem er das Foto betrachtet, dass Marschall Tito jedem, egal in welcher Ecke der Gaststube er gerade stehe, direkt ins Gesicht blicke, einen sozusagen mit seinen Augen verfolge. Das könne man beim Betreten der Gaststube überprüfen. Zwei Männer erheben sich von unserem Tisch und gehen auf die Toilette, um, wie sie sagen, beim Zurückkommen den Blick des Marschalls in Augenschein zu nehmen. Gerade als sie die Gaststube wieder betreten, wird uns die Nudelsuppe serviert. Die Männer halten sich nicht lange an der Türschwelle auf, wo sie stehen geblieben waren, um vom Blick des Marschalls in Empfang genommen zu werden. Aus Freude oder Erleichterung darüber, dass man so ausgiebig gebetet hatte, wird Wein bestellt und gegen den Durst getrunken. Den Cvicek vertrage auch sie, sagt Großmutter und prostet den Mitreisenden zu. Außerdem müsse man sich für zwei weitere Ausflugsziele stärken, für Begunje und Bled.
Das Dorf Begunje liegt unweit von Brezje. Man wolle ein ehemaliges Gefängnis besichtigen, sagt Smrtnik, da seien im Krieg sehr viele Menschen gefoltert und umgebracht worden.
Wir steigen vor einer hohen weißen Wand aus dem Auto und treten in das Innere des ehemaligen Schlosses, in dem die Nazis Gefängniszellen eingerichtet hatten. An den Wänden des Gefängnistrakts hängen Listen mit den Namen der Erschossenen, unterzeichnet vom Kärntner Gauleiter. Eine Frau führt uns durch die Räume und schaltet, bevor wir eine dunkle Kammer betreten, ein Tonband ein, auf dem man die Schreie eines Kindes hört, das verzweifelt nach seiner Mutter ruft. Smrtnik schildert Großmutter, wie es ihm ergangen war, als die Gestapo seine Familie aus Trögern abführte. Er habe nicht einmal weinen können, sagt er. Ich greife nach Großmutters Hand, weil mich die Schreie des Kindes verstören. Sie legen sich über alles, was es zu sehen gibt, wie eine Lärmdecke, die das Sichtbare zudeckt und das Verborgene an den Tag zerrt. Ich weiß nicht, wie ich Großmutter zu verstehen geben könnte, dass ich die Schreie des
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