Engel des Vergessens - Roman
Vaterunser. Er hebt seinen Kopf und blickt uns ein paar Augenblicke vorwurfsvoll an, dann beginnt er wieder zu singen und stellt die rauchende Gusseisenpfanne aus dem Bienenhaus ins Freie.
An Wochenenden schickt mich Mutter ins Gasthaus, um Vater zu holen, weil er, wie sie sagt, vergessen habe, nach Hause zu kommen. Sie wolle ihn nicht mehr abholen, weil er sich auf dem Nachhauseweg unmöglich aufführe, genug ist genug, sagt Mutter.
Die Küche beim Rastocnik ist verraucht und von Kochdünsten durchzogen. Wenn ich die Tür öffne, wird aus dem Inneren gerufen, dass für Vater das Kommando zum Rückzug eingetroffen sei. Vater sitzt an der Wandseite des Gästetisches und schmunzelt. Ich setze mich zu ihm auf die Holzbank. Du sollst nach Hause kommen, sage ich, als ob er das nicht selber wüsste. Meinst du, fragt er und bestellt für sich noch ein Bier und für mich eine Limonade.
Die Wirtin stellt die Getränke rasch auf den Tisch und fragt, was es zu Hause Neues gebe und wie es mir in der Schule gehe. Freust du dich auf das neue Haus, will sie wissen. Ich nicke und blicke Vater fragend an. Das wird was werden, sagt er, das wird mich in den Ruin treiben.
Ach was, sagt Pepi, ein Cousin meiner Mutter, du musst ja nicht jeden Blödsinn mitmachen. Die Zeit sei günstig zum Bauen, ob Vater nicht aufgefallen sei, dass vor fast jedem Haus eine Betonmischmaschine stehe. Verdammt, ja, entgegnet Vater und zieht an seiner Zigarette.
Es ist Nacht geworden, als wir das Gasthaus verlassen. Auf dem Heimweg schimpft Vater mit unsichtbaren Gegnern. Manchmal zeigt er zum Nachthimmel hinauf und sagt, der Große Wagen, siehst du, oder da, der Kleine Wagen. Ich gehe in ausreichendem Abstand neben ihm her und vermeide, ihn zu berühren. Hat dich Mutter geschickt, fragt er jäh und seine Stimme klingt gereizter als vorher. Nein, lüge ich, es war Großmutter. Ach so, murmelt er und geht schweigend weiter.
Zu Hause stellt Großmutter einen Wermutschnaps und einen Tee aus Tausendguldenkraut auf den Tisch, das Kraut gegen tausend Beschwerden, sagt sie. Vater solle den Tee austrinken, bevor er sich schlafen lege. Von Mutter will ich erfahren, ob Vater krank sei. Er habe Magenschmerzen, erklärt sie und liege fast jede Nacht wach. Sie könne auch nicht schlafen, wenn er vor Schmerzen stöhne. Er wolle aber nicht zum Arzt. Vielleicht liege das an der nahenden Veränderung, mutmaßt sie. Wir bekämen ein neues Haus und ich ein eigenes Zimmer, ob mich das freue. Ich nicke, obwohl die Vorstellung, Großmutters Kammer zu verlassen, keine Begeisterung in mir auslöst.
Vater liegt am nächsten Tag auf der Ofenbank und ruht sich aus. Mutter hat ihm einen feuchten Kräuterwickel auf den Bauch gelegt, der nach nassem Heu riecht. Er habe sich in der Nacht vor Schmerz übergeben, aber es sei nur Flüssigkeit heraufgekommen, sagt Vater, ein gelber Schleim. Ich blicke ihn bekümmert an und gehe mit schlechtem Gewissen nach draußen, weil ich nichts für ihn tun kann.
* * *
Es sei an der Zeit, mit mir zum Hrevelnik-Hof zu wandern, sagt Großmutter, solange sie noch gehen könne. Bald werde es sowieso zu spät sein.
Eines Morgens weckt sie mich früh und holt aus dem Kornspeicher einen Weidenstock, der sie überragt. Zieh dir anständiges Schuhwerk an, befiehlt sie, der Weg ist steil.
Wir steigen vorerst gemächlich den Wiesenhang hinunter zur Gemeindestraße. Dort dreht sich Großmutter um und blickt auf unser Haus zurück, dessen gekalkte Wände zwischen den Obstbäumen hervorblitzen. Sie könne sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass das alte Haus abgerissen werden soll, seufzt sie. Das Haus habe vielen Generationen Schutz geboten, wie könne man es dem Boden gleichmachen wollen!
Wir biegen auf einen Güterweg ein, der sich auf der Schattenseite des Grabens in weiten Kehren über die Wiese zum Wald hinaufschraubt. Die Landschaft tanzt auf Großmutters Brillengläsern einen schwankenden Tanz. Die Wiesen schaukeln sich zu den Hügelkuppen hinauf, die Spitzen der Fichten senken sich in den schattigen Talgrund hinab, der kleine Ausschnitthimmel leuchtet im glitzernden Wasser des Baches tief unten, neben der Straße.
Im Wald verengt sich der Weg unter unseren Füßen. Nach einer Lichtung rutscht er zu einem Bächlein hinab und klettert dann steil bergauf, als ob er uns abhalten wollte, weiterzugehen. Er ist glitschig und mit Buchenlaub bedeckt. Unsere Schritte lösen kleine Laublawinen aus, die sanft in die Tiefe gleiten. Wir haben Mühe zu gehen.
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