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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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blaues Liederheft und, darunter verwahrt, das rote, fleckige Lagerbuch meiner Großmutter.
    Ich setze mich benommen aufs Bett. Das kleine Erbe liegt schwer in meiner Hand. Die schwärmerische Mici hat slowenische Lieder, Gedichte und Briefe in Versen an ihren Geliebten und an die Tanten Katrca, Urša, Leni, Malka und Angela in ihr Heftchen notiert, die Sprache als Klangrausch aufgeschrieben, als ununterbrochenen Gesang. Das Einzige, was von ihr geblieben ist.
    Ich beginne in Großmutters Lagerbuch zu lesen, das ich als Kind oft in Händen hielt.
    Erinnerungen an Großmutters Kammer werden wach, Erinnerungen an das besondere, milchige Licht, das das Unbegreifliche, von dem sie mir erzählte, in viele Augenblicke von Nähe auflöste, die in der Luft zirkulierten wie feiner Staub und eine Nacht später schon auf den Gegenständen liegen geblieben waren, als ob nichts sie je aufgewühlt hätte.
    Großmutter schreibt anfangs in einer gefassten Schrift, ihre Wörter sind unbeholfen, nicht für das Aufschreiben gedacht, sondern für das Erzählen. Obwohl sie kaum schreiben konnte, die Sätze weder orthographisch noch syntaktisch korrekt sind, muss sie überzeugt gewesen sein, dass sie ihre Geschichte festhalten müsse.
    Je bilo u tork opoldne 12 Oktober je locitev od hise in od temalih Sinov Toncek in Zdravko. Toje bilo hudo zamene ker jas nisem kriva nic. Es war Dienstag Mittag 12 Oktober, da war die Trennung vom Haus und von den kleinen Söhnen Toncek und Zdravko. Das war schlimm für mich weil ich hab keine Schuld, schreibt Großmutter.
    Sie sei für zwei Stunden im Gefängnis von Eisenkappel festgehalten worden, dann ging es weiter nach Klagenfurt, nach drei Wochen, am zweiten November, um sechs Uhr in der Früh von Klagenfurt nach Maribor. Es war wunderbar, cudovito , schreibt sie, wie uns die Kinder auf der Straße anspuckten und fürchterlich schrien. In Maribor habe man ihnen noch ein Abendessen gegeben, Rüben und Kartoffeln. Um drei Uhr in der Früh habe es einen guten Kaffee und ein gutes Brot gegeben. Eine Scheibe Brot, ein wenig Topfen und einen Löffel Marmelade konnte man als Proviant auf die Reise nach Wien mitnehmen. In Wien, Ven , schreibt Großmutter, habe sie auf dem Zementboden schlafen müssen. Das Essen sei schlecht gewesen, es habe nur Kartoffelsuppe gegeben, aber keinen Löffel, sie habe mit dem Finger die Kartoffelstücke aus der Suppe schieben müssen. Nach zehn Tagen ging es weiter nach Prag, Prak, schreibt Großmutter, da seien sie von Wanzen geplagt worden, das Essen sei schlecht gewesen, kein Abendessen, am Morgen nur wenig Kaffee, dann weiter und weiter, ohne Essen, ohne Wasser nach Berlin. Eine Nacht und einen Tag habe man sie ohne Essen gelassen. Da war noch gut, dass sie erkrankt war und wegen der Halsschmerzen nicht schlucken konnte. Dann ging es weiter nach Ravensbrück, da sei es sonderbar gewesen, notiert sie, der Mensch ist kein Tier!
    Für das, was in der folgenden Zeit Trauriges geschehen sollte, wie sie vermerkt, fehlen ihr die Worte. Sie benötigt für eineinhalb Jahre Konzentrationslager nur drei kleine Seiten, dann schreibt sie rajža , die Reise, am 28. April, und meint den Beginn der Irrfahrt, die sie Monate später nach Lepena brachte. Am 14. Mai, Mirow, der erste Ortsname vor Wesenberg und Rheinsberg schon in einer fahrigen Schrift, die ihre Erregung ahnen lässt. Die Namen der Orte, in denen sie sich auf ihrer Heimreise aufhält oder durch die sie fährt, notiert sie nach dem Gehör. Je länger ihre Heimreise dauert, desto mehr brechen die Namen der Dörfer und Städte auseinander. Sie notiert sie im fahrenden Viehwaggon, später im Zugabteil. Die Orte des Überlebens wirken wie ausgebombt, wie eben die Städte ausgesehen haben mögen, von denen Großmutter erzählte. 15. August Dresden, Tresten , schreibt Großmutter. Nach kaum entzifferbaren Namen taucht Bratislava auf, korrekt geschrieben, dann Budapest, am 24. August Subotica , sind bester Laune gewesen, schreibt sie. Es gab viel Fleisch zu essen und viel Schnaps, den 25. im Bad verbracht, das Wochenende über gefeiert und getanzt, wie sie erzählte, später schreibt sie Belkad , womit Belgrad gemeint ist, schöne Stadt, stellt Großmutter fest, am 30. August trauriger Morgen auf dem Bahnhof in Zagreb , darauf Vellenje und Slovenkrac für Slovenji Gradec, dann Hrevelje , für das Hrevelnik-Anwesen in Lepena. Sie schließt ihren Reisebericht mit dem Halbsatz, zu Haus das war Angst ja oder nein, doma toje blo strah

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