Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
ihn herum war schwächer als bei anderen Leuten, es wirkte sehr blass und verschwommen, kaum mehr sichtbar, doch damals dachte ich noch nicht weiter darüber nach.
Meine Großmutter war klein, gut aussehend und elegant, ihr graues Haar trug sie kurz geschnitten. Um die Jugendherberge in Schuss zu halten, musste sie hart arbeiten. Zudem war sie eine leidenschaftliche Köchin und verbrachte viele Stunden in ihrer Küche, um Vollkornbrot, Apfelkuchen und andere Köstlichkeiten zu backen. Meine Großeltern hielten sich daher überwiegend in ihrer Küche auf, wo es immerzu nach Frischgebackenem roch. Ich genoss es sehr, mit ihnen am Tisch zu sitzen, Tee zu trinken und noch heißes Vollkornbrot zu knabbern.
Das riesige Haus war phantastisch. Hinter der Küche lag ein schier endlos langer Flur, in dem unzählige Blumentöpfe aufgereiht waren. Während des Sommers, als wir dort Urlaub machten, erstrahlte der ganze Korridor in allen Farben. Er mündete in einen Wintergarten, wo es wirklich nichts anderes gab als Großmutters Blumen, doch ich liebte diesen Ort. Hierher zog ich mich häufig zurück, um mit den Engeln Zwiesprache zu halten.
Der Garten war ebenfalls sensationell. Und die Höfe mit den Remisen, in denen die Schwalben nisteten! Hinter den Höfen befand sich ein kleines Tor, über das ich lieber kletterte, anstatt es zu öffnen. Es führte in einen Garten mit großen Bäumen und herrlichen, betörend duftenden Blumen; Kaninchen und Vögel bevölkerten ihn. Manchmal, wenn ich unter einem der hohen Bäume mit seinen tief herabhängenden Ästen saß, konnte ich einer Amsel ins Nest gucken und ihre Jungen beobachten. Jenseits des Gartens erstreckten sich Felder und die offene Landschaft. Ich liebte diesen Garten und fühlte mich dort sehr sicher.
Vom ersten Tag in Mountshannon an unternahm ich auf eigene Faust ausgedehnte Spaziergänge; ich konnte verschwinden, ohne dass jemand Notiz davon nahm oder sich dafür interessierte, wohin ich gegangen war. Überhaupt war es eine Spezialität von mir, unbemerkt zu bleiben. Die meiste Zeit schien ich in der Gegenwart Erwachsener ohnehin nicht zu existieren. Mitunter hatte ich das Gefühl, sie wären ohne mich wirklich glücklicher gewesen, war mir aber nicht ganz sicher, woher dieses Gefühl rührte. Sei es, weil ich ihre Gedanken erahnte oder all der Dinge wegen, die ich im Lauf der Jahre hatte über mich reden hören. So habe ich zum Beispiel als kleines Kind mitbekommen, wie eine Nachbarin zu meiner Mutter sagte, ich könnte wirklich froh sein, dass man mich nicht eingesperrt und den Schlüssel fortgeworfen hätte. Meine Mutter hat damals nicht darauf geantwortet und auch sonst nichts zu meiner Verteidigung vorgebracht.
Ich lief meilenweit – durch Moore und Wälder, über Heuwiesen, an den Ufern des Shannon entlang –, aber ich fühlte mich nie einsam, denn ich unterhielt mich ja immer mit den Engeln oder beobachtete und belauschte Vögel und andere Tiere. Bisweilen kam von den Engeln ein:
»Achtung jetzt, setz deine Schritte ganz behutsam.« Dann wusste ich, die Engel würden mir gleich etwas Schönes oder Interessantes zeigen – ich erinnere mich noch an meine Begeisterung über eine Kaninchenfamilie: Die kleinen Tiere liefen nicht davon und so konnte ich mich in ihrer unmittelbaren Nähe niederlassen und ihnen stundenlang beim Spielen zuschauen. Manchmal musste ich auf meinen Spaziergängen etliche Kilometer zurückgelegt haben, aber ich verlief mich nie und mir passierte auch sonst nichts. Denke ich heute daran zurück, was ich damals so alles unternommen habe – Straßen überquert, durch Flüsse und Moore gewatet, mich auf Wiesen mit jeder Menge Vieh gewagt –, dann frage ich mich doch, wie es sein konnte, dass mir dabei nie etwas zugestoßen ist. Und die Antwort liegt sozusagen auf der Hand: Gott und die Engel haben ihre Hände über mich gehalten. Die Engel brachten mich zum Lachen und zum Weinen, sie waren die besten Freunde, die man überhaupt haben konnte; sie sind alles für mich.
Eines Tages war ich davongeschlichen und hatte das kleine Tor schon hinter mir gelassen, als aus dem Nichts einer der Engel erschien und mich am Arm fasste: »Komm mit, Lorna, wir wollen dir etwas zeigen, etwas, das dir ganz bestimmt gefallen wird.«
Als wir so über das Feld liefen, drehte ich mich zu den Engeln um und sagte lachend: »Wetten, dass ich schneller bin als ihr!«
Sofort stürmten wir mit voller Geschwindigkeit los. Ich fiel hin und schlug mir das Knie auf.
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