Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
Ich weinte.
»Das kann doch gar nicht so wehtun, ist doch nur ein kleiner Kratzer«, behaupteten meine Engel.
»Ähmähmähm, Moment mal«, gab ich zurück, »für euch ist das vielleicht nur ein kleiner Kratzer, für mich aber ein großer Riss! Ich fühle, wie er brennt! Und er brennt sehr, das kann ich euch sagen!«
Aber sie lachten mich aus und meinten nur: »Komm, steh auf, wir wollen dir doch etwas zeigen!«
Also erhob ich mich und hatte mein schlimmes Knie natürlich rasch vergessen. Als wir uns der Waldgrenze näherten, forderten sie mich zum Hinhören auf. Ich lauschte aufmerksam und machte in der Ferne die Laute vieler Tiere aus.
»Worauf genau soll ich hören?«, wollte ich wissen.
»Beschränke dich auf ein einziges Tier. Blende ein Geräusch nach dem anderen aus, bis du nur noch ein einziges Tier hörst«, sagten die Engel. »Auf diese Weise wirst du lernen, uns deutlicher zu vernehmen, wenn du älter wirst.«
Also begann ich alle Laute voneinander zu trennen, während wir durch den Wald gingen, und hörte bei jedem Schritt den Boden unter meinen Füßen knacken. Schon nach kurzer Zeit konnte ich all die verschiedenen Vogelstimmen auseinanderhalten: die Melodie der Spatzen, der Finken, der Zaunkönige, der Amseln und vieles mehr. Ich hörte nicht nur die einzelnen Stimmen heraus, sondern auch, wo genau sie sich gerade befanden – doch galt das nicht nur für die Vögel, es gelang mir auch bei allen anderen Tieren um uns herum. Im Unterricht bei den Engeln lernte ich anscheinend sehr schnell.
Dann hielt ich inne und sagte: »Ich höre eine Art Schreien, das ist doch bestimmt das Geräusch, das ihr mir zu hören geben wolltet? Es klingt, als weint jemand.«
Dann setzte ich meinen Weg durch den Wald fort; mir war, als würden die Bäume allmählich immer höher und das Tageslicht immer weniger. »Oh, ihr Engel«, bat ich, »es ist so dunkel hier, könntet ihr es nicht ein bisschen heller machen?«
»Hab keine Angst«, beruhigten sie mich, »folge weiter dem Geschrei, folge dem Laut, den du hörst.«
Ich gehorchte, und das seltsame Schreien führte mich auf eine Lichtung. Lauschend blieb ich stehen und da ertönte es wieder. Es musste ganz in meiner Nähe sein, da war ich mir sicher. Rechts von mir. Also wandte ich mich zu den Bäumen auf der rechten Seite, das dazwischen
wuchernde Dornengestrüpp zerkratzte mir Beine und Hände. Die Schreie waren nun verstummt, ihr Ursprung deshalb nur schwer zu finden. Ich hatte das Licht im Rücken; in den Dornensträuchern und Büschen vor mir herrschte Finsternis.
»Ihr Engel, ich kann nichts sehen«, klagte ich. In diesem Moment flackerte am Fuß eines Baumes ein Licht auf.
»Schau auf das Licht an dem Baum dort drüben«, sagte einer der Engel zu mir, »dort, direkt bei dem niedrigen Ginsterbusch, dort wirst du es finden.«
Und dort fand ich es auch: Es war ein kleiner Vogel, kein gewöhnlicher, vielmehr ein Raubvogel; später erfuhr ich, dass es ein Sperber war. Eine völlig abgemagerte, abgrundtief hässliche kleine Kreatur, doch ich fand ihn wunderschön. Ich hob das kleine Wesen vorsichtig hoch und blickte auf zu dem hohen Baum, von dem es offensichtlich heruntergefallen war. Niemals hätte ich da hinaufklettern und das Vogeljunge in sein Nest zurücksetzen können. Als es sich in meiner Hand bewegte, entdeckte ich, dass es verletzt war – beide Beine waren verkrümmt, zudem hatte es eine rissige Wunde am Hals, wahrscheinlich vom Sturz herrührend. Die Engel berichteten mir, die Vogeleltern hätten dieses Junge nicht haben wollen und es deshalb aus dem Nest geworfen.
»Es ist ein Geschenk Gottes an dich«, erklärten sie mir, »du sollst dich von jetzt an in diesen und bis zum Ende der nächsten Sommerferien um ihn kümmern, danach jedoch wird er nicht mehr mit dir nach Hause kommen. «
Mitunter verstand ich die Worte der Engel nicht, nahm sie aber immer für bare Münze. So lief ich mit dem kleinen Vogel durch den Wald und über die Felder nach Hause. Dort fand ich eine alte Mütze und eine Schachtel, in der er wohnen konnte.
Allmählich kam mein Vogel zu Kräften, aber richtig laufen konnte er nach wie vor nicht, deshalb trug ich ihn
überall mit mir herum. An Fliegen war natürlich auch nicht zu denken, da er ja nicht auf seinen Füßen landen konnte. Mein Vater und ich brachten ihm immerhin bei, seine Flügel auszubreiten und kurz durch die Lüfte zu gleiten, wenn wir ihn uns gegenseitig zuwarfen.
Seine Ernährung wurde ebenfalls zum
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