Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
Problem, denn er brauchte rohes Fleisch. Ich konnte jedoch nicht für ihn draußen auf die Jagd gehen. Das Fleisch musste auch immer ganz frisch sein und dazu kam noch, dass die Vogelmahlzeiten aus winzigen Portionen bestanden. Meine Eltern konnten keinen halben oder gar ganzen Penny für ein bisschen rohes Fleisch erübrigen. So hielt ich den Engeln immer wieder vor: »Ihr macht es mir wirklich schwer!« Ich erinnere mich noch an unseren Familienausflug ins ein paar Kilometer entfernte Killaloe, wo ich mit dem Sperber auf dem Arm in eine Metzgerei hineinging und dem Metzger erklärte, ich bräuchte rohes Fleisch, um meinen Vogel zu füttern, hätte aber leider kein Geld. Ich hasste es, betteln zu müssen, doch der Mann war sehr freundlich und meinte, ich dürfte während der ganzen Ferien jederzeit wiederkommen, er würde mir das rohe Fleisch für meinen Vogel geben. Das hört sich einfach an, war es jedoch nicht – denn meinen Eltern fehlte das Geld für das Benzin, um immer wieder von Mountshannon nach Killaloe zu fahren.
Noch immer kann ich nicht verstehen, weshalb meine Eltern sich nicht mehr um den kleinen Sperber kümmerten; damit habe ich bis heute zu kämpfen. Fremde Menschen halfen mir, den Vogel zu versorgen, meine eigenen Eltern hingegen rührten keinen Finger. Wenn meine Mutter unser Essen kochte, lief ich in die Küche, in der Hoffnung, dass ein bisschen rohes Fleisch, nur ein Teelöffel voll, für meinen Vogel abfiel, bekam aber immer bloß ein unwilliges Murren zur Antwort. Dabei war ich sogar bereit, dem Vogel meinen Anteil Fleisch abzutreten, doch das ließ sie nicht zu. Sie brachte mich so in die Situation, betteln gehen zu müssen. Ich werde das Gefühl
nicht los, meine Eltern hätten sich anders verhalten, hätte der Vogel einem meiner Geschwister gehört. Das war sehr bitter für mich. Doch irgendwoher bekam der Sperber sein Futter und wuchs heran.
Als ich eines Tages wieder einmal traurig war, sagte Hosus zu mir: »Wir wissen, dass dein Herz manchmal schwer ist und du noch so ein kleines Dingelchen bist – aber denk immer an eines: Gott hat dich anders gemacht und du wirst dein Leben lang so bleiben. Auf dich warten besondere Aufgaben.«
Ich begehrte auf: »Aber das will ich doch gar nicht! Warum kann Gott sich nicht jemand anderen aussuchen? «
Hosus lachte mich aus und gab zurück: »Eines Tages wirst du selbst draufkommen, warum.«
»Ich habe aber Angst!«, wandte ich ein, »ich möchte deshalb weinen.«
»Du wirst weinen müssen«, erklärte Hosus, »denn gerade deine Tränen werden gebraucht, um die Seelen anderer Menschen zu befreien.«
Damals war mir noch nicht klar, was er meinte.
Wie viele Leute hielt auch meine Großmutter mich für irgendwie zurückgeblieben und gab sich deshalb selten mit mir ab. Als sie es dann eines Tages doch tat, erfuhr ich eine Menge über sie und meine Familie. Sie forderte mich auf, ihr beim Putzen und Staubwischen in ihrem Schlafzimmer zur Hand zu gehen. Das hatte es noch nie gegeben! Davor hatte ich ihr Schlafzimmer höchstens ein oder zwei Mal betreten, wobei ich mich dort nur umgesehen, aber nichts angefasst habe. Und jetzt durfte ich ihr beim Staubwischen helfen! Sie reichte mir ein Staubtuch und bat mich, einen Tisch damit zu reinigen. Sie selbst nahm sich ein Schränkchen vor, hob behutsam all die kostbaren Dinge darauf hoch und staubte sie ab.
Ich sah sie nach einem Foto in ovalem Rahmen greifen und nahm eine große Traurigkeit in ihr wahr. Sie musste meinen Blick gespürt haben, denn sie kam zu mir herüber und brachte die Fotografie mit. Dann ließ sie sich auf dem großen, alten Bett nieder und klopfte einladend auf den Platz neben sich. Ich erklomm das hohe Bett und saß mit baumelnden Beinen neben ihr. Sie reichte mir das wunderschöne alte Foto: Es zeigte ein kleines Mädchen etwa meines Alters in einem zerrissenen Kleid, die Haare zurückgeworfen, barfuß, daneben hockte ein kleiner Junge, der mit einem Stöckchen im Matsch herumrührte. »Das sind meine beiden kleinen Kinder, die Gott zu sich in den Himmel geholt hat.«
Bei diesen Worten füllten sich ihre Augen mit Tränen. Daraufhin sagte ich tröstend zu ihr: »Du wirst sie wiedersehen, Oma. Das weißt du doch, nicht wahr?«
»Ja, Lorna«, gab sie zurück, »ich werde sie hoffentlich bald wiedersehen.«
Ich fragte, was denn mit den beiden geschehen sei. Sie erzählte mir, die Familie sei bettelarm gewesen und der kleine Tommy krank geworden, weil sie ihn nicht richtig und
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