Engel sterben
den Dünenbewuchs schützen soll. Es ist fast dunkel, und der Beginn des Pfades ist unter den neugepflanzten Gräsern kaum zu erkennen, aber Fred findet ihn. Mit eiligen Schritten gelangt er hinter die erste Düne. Das sich daran anschließende Tal liegt als finstere Mulde vor ihm, in dessen Mitte ein unbewachsener Fleck hellen Sandes leuchtet. Im Näherkommen erkennt Fred Fußspuren. Sie führen von unterschiedlichen Seiten in die Sandkuhle hinein. Es sind ausnahmslos Erwachsenenspuren. Keine Kinderfüße.
Fred umrundet die Fläche zweimal und kontrolliert jeden Eintritt genau. Natürlich kann man nicht sehen, wie alt die Spuren sind und ob sie vielleicht von den suchenden Eltern selbst oder sogar von Polizisten stammen. Fred will gerade aufgeben, da kommt ihm eine Idee. Könnte nicht dieser Entführer das Mädchen getragen haben? Er knipst die Taschenlampe an, beginnt eine neue Runde um den Sand und leuchtet schräg in die jeweiligen Spuren hinein. Die Schatten, die sie an den Kanten werfen, sind mehr oder weniger gleich lang. Die minimalen Unterschiede lassen sich leicht mit abweichendem Körpergewicht erklären. Gerade will Fred aufgeben, da fällt ihm etwas anderes auf. Einer der Eindringlinge scheint eine Unwucht im Schritt gehabt zu haben. Die rechten Fußabdrücke sind tiefer als die linken. Vielleicht hat jemand gehinkt. Oder aber es hat jemand etwas getragen. Auf der rechten Hüfte beispielsweise. Ein zappelndes Mädchen vielleicht.
Fred starrt lange auf die merkwürdigen Fußspuren. Noch hat er selbst die Kuhle nicht betreten. Aber nun sucht er sich ein unverdächtiges Spurenpaar und setzt vorsichtig seine Füße hinein. Schritt für Schritt dringt er ins Innere des Kreises vor. Die Ansammlung von Trittabdrücken in der Mitte war von außen nicht so gut zu erkennen wie jetzt im Licht der Taschenlampe. Es gibt keine Liege- oder Sitzspuren, hier haben weder ein Beischlaf noch ein Picknick stattgefunden, so wie es früher zu Freds goldenen Zeiten üblich war.
Doch etwas ist merkwürdig. Die Abdrücke deuten auf ein wildes Getrappel. Da hat jemand stehend etwas getan, bei dem er sich mehrmals auf der Stelle bewegt hat. Was könnte das gewesen sein?
Fred geht in die Knie, um den Verlauf der Spuren genau zu verfolgen. Er legt die angeschaltete Taschenlampe neben sich in den Sand. Mittlerweile ist es fast vollständig dunkel. Doch so wie der Lichtkegel der Lampe nur einen winzigen Teil der Sandgrube ausleuchtet, so zwingt auch die kauernde Haltung Freds Blick zu größter Konzentration. Die Anordnung der Spuren ergibt einfach keinen Sinn. Es sei denn, der Sinn läge gerade darin, Sinnlosigkeit vorzutäuschen, um von anderem abzulenken. Nur wovon?
Diesmal richtet er den Strahl der Taschenlampe auf den Ring aus Dünengras, das um die Kuhle herum wächst. Nichts. Verdammt, da ist einfach gar nichts.
Was soll’s also. Fred lässt alle Vorsicht sausen und setzt sich neben die Spuren in den Sand. Der ist weich und noch warm von der Sonne des Tages, es ist angenehm, eine Hand hineinzugraben. Eine Zigarettenkippe rutscht unter Freds Fingern weg, dann treffen sie auf das harte Horn eines Federkiels. Während der Lichtstrahl aus Freds Lampe sich zum dritten oder vierten Mal in hoffnungsloser Wiederholung an den Grasbüscheln entlangtastet, zieht Fred mit der linken Hand die Feder aus dem Sand. Sie ist erstaunlich groß und gar nicht verwittert. Sehr weiß. So weiß, dass sie glänzt.
Fred stutzt und richtet die Lampe auf die Feder.
Winzige Goldpartikel reflektieren das Licht. Sie sitzen zwischen den feinen Seitenhaaren dicht am Federkiel, und sie stammen bestimmt nicht aus dem Gefieder eines Seevogels. Eher aus einem Karnevalsversand. Oder einem Spielwarengeschäft.
Kinderspielzeug? Ein Karnevalskostüm? Und jetzt ein verschwundenes Kind. Das ist eine Spur!
Doch kaum hat Fred diese Worte gedacht, verliert er den Bezug zu ihrem Inhalt. Ist diese vage Assoziationskette wirklich ausreichend, um eine Hypothese zu konstruieren? Freds Ernüchterung kommt ebenso plötzlich wie die Euphorie Sekunden vorher. In was für ein schwachsinniges Vorhaben hat er sich hier nur hineingesteigert? Sitzt im Dunklen mitten in den Dünen und gräbt Federn aus dem Sand. Weißgoldene Federn.
Wieder regt sich etwas in Freds Hirn. Weißgoldene Federn. Wahrscheinlich rührt das seine poetische Ader. Oder sein ehemals berühmter Sinn für Pointen ist erwacht. »Abgehalfterter Journalist findet anstatt eines getöteten Mädchens eine
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