Engel sterben
und schlurft weiter, ihr Hund, den Mona jetzt erst entdeckt, watschelt hinterher.
Wenig später taucht aus einem Querweg, der bis zur Wattkante hinunterführt, ein drahtig wirkender Herr samt Dogge auf. Auch ihn grüßt Mona freundlich. Man weiß schließlich nie, ob man nicht einen potentiellen Kunden vor sich hat. Aber der Doggenbesitzer antwortet nicht. Er scheint es eilig zu haben, seine Runde zu beenden. Wahrscheinlich will er rechtzeitig zu den Neun-Uhr-Nachrichten vor dem Radio sitzen, wie viele auf der Insel. Vielleicht gibt es doch etwas Neues über das verschwundene Mädchen. Seit gestern Abend ist das Kind jetzt schon weg, und niemand hat eine Spur.
Mona ist sich im Klaren darüber, dass ihr diese Geschichte den Saisonabschluss verderben könnte. Noch ist das Verschwinden des Mädchens für die wohlhabenden Inselbesucher nicht viel mehr als ein gruseliges Gesprächsthema, aber sollte der Fall nicht bald aufgeklärt werden, wird sich so mancher Kaufwillige die Sicherheitsfrage stellen. Keine gute Voraussetzung für eine größere Investition. Während Mona langsam auf das Rother’sche Haus zugeht, wächst die Unruhe in ihr. Ihre Hände beginnen zu schwitzen, und in ihrem Nacken sträuben sich die feinen Härchen. Lächerlich. Mona schämt sich vor sich selbst. Was soll schon sein? Sie macht einen harmlosen Spaziergang zu einem lukrativen Objekt, das ihr angeboten worden ist.
Um sich abzulenken, zwingt Mona sich dazu, über einen Werbetext für das Exposé nachzudenken. Wichtig ist, dass er bestimmte Reizworte enthält, die eine Atmosphäre von entspanntem Luxus transportieren. »Seewind« ist so ein Reizwort. Und es gibt noch mehr. »Möwenschreie, Sturmtage, Kaminfeuer, Wellenrauschen.«
»Träumen Sie an Sturmtagen vor dem Kaminfeuer, während die Wellen nur wenige Schritte von Ihrem neuen Domizil entfernt an den Strand rauschen.«
Nicht schlecht für den Anfang, nur Wellenrauschen gibt es am Watt nicht, denkt Mona, als sie an der Tür angekommen ist und ganz in Gedanken die Klingel betätigt. Als ein melodischer Ton aus dem Inneren des Hauses dringt, fährt sie zusammen. Eigentlich müsste der Strom abgestellt sein, so lange wie das Haus nicht mehr bewohnt worden ist. Aber vielleicht handelt Rother doch durchdachter, als sie es ihm zutraut, und hat den Strom vorsorglich wieder anstellen lassen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Familie sich damals nicht die Mühe gemacht hat, die Versorger überhaupt zu benachrichtigen, schließlich hat man ja innerhalb der letzten dreißig Jahre auch die herumliegende Zeitung nicht weggeräumt, überlegt Mona. Was mag nur geschehen sein, das ein solches Vorgehen rechtfertigt?
Sie führt ihr Gesicht ganz nah an das gewölbte Fenster in der Eingangstür heran. Ist da nicht sogar ein Lichtschein auf der Treppe zu erkennen? Zögernd betätigt Mona noch einmal die Klingel. Es läutet, aber niemand reagiert. Dann klopft sie gegen die Tür. Wieder nichts. Sie klopft noch einmal. Ein hohler Ton ist die Antwort. Er dringt aus dem Inneren des Hauses. Oder war es doch eher der dumpfe Laut eines Tieres irgendwo hinter ihr in der Heide, über die sich jetzt langsam die Dunkelheit breitet?
Während Mona ein drittes Mal klopft, drückt sie fast absichtslos die Klinke hinunter. Als die Tür nachgibt und aufspringt, könnte Monas Schreck nicht größer sein. Sie tritt einen Schritt zurück, bleibt hinter der Schwelle stehen und ruft in die Diele hinein.
»Hallo? Ist da jemand?«
Monas Stimme hallt einsam durch das Erdgeschoss. Niemand antwortet. Und auch von dem Lichtschein, den sie wahrzunehmen geglaubt hat, ist keine Spur zu sehen.
»Hallo? Herr Rother? Ich bin es, Mona Hofacker. Die Maklerin. Ich habe vergeblich versucht, Sie zu erreichen. Es geht um den Schlüssel. Ich habe nämlich gute Nachrichten. Es gibt bereits einen Interessenten.«
Nichts. Keine Antwort, kein Licht. Hier ist niemand. Offenbar war dieser Markus Rother tatsächlich noch einmal in dem Haus seiner Kindheit und hat lediglich beim Gehen vergessen, die Tür abzuschließen. Eine klassische Freud’sche Fehlleistung. Wer die Tür nicht hinter sich verriegelt, kann jederzeit zurückkommen.
Vorsichtig macht die Maklerin einige Schritte in das Haus hinein. Sie kann der Versuchung nicht widerstehen, sich noch einmal ungestört umzusehen. Die stickige Luft im Inneren der Villa ist das Erste, was sie wahrnimmt. Das Zweite ist der Geruch nach Erbrochenem.
Energisch schließt Mona die Außentür hinter sich.
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