Engel sterben
Engelsfeder in den Dünen.« Leider deutet nichts, absolut gar nichts darauf hin, dass diese Feder mit dem verdammten verschwundenen Mädchen zu tun hat.
Und doch ist da etwas. Etwas, das deutlich fühlbar unter Freds Hirnschale pocht und an die Oberfläche gelangen will. Etwas, das wichtig ist. Etwas, das ihm, Fred Hübner, vielleicht hilfreich sein kann bei der Verwirklichung seines größten Traumes, beim Verfassen der einen, der megamäßigen Story. Etwas, das hilfreich sein kann bei Fred Hübners triumphalem Comeback als investigativer Journalist.
Unschlüssig dreht Fred die Feder in der Hand. Die weißgoldene Feder. Aber die Inspiration bleibt aus. Kein Geistesblitz, kein genialischer Gedanke. Nur ein leichter Schwindel im Kopf, selbst jetzt beim Sitzen. Schwindel. Lächerlich.
Wenn das alles sein sollte, was ihm zu seinem großen Comeback einfällt, dann kann er einpacken. Freds Restverstand empfiehlt dringend den sofortigen Aufbruch. Und vielleicht einen Abstecher in die kleine Bar hinter der Fischbude am Hafen. Die Barfrau hebt gern selbst einen, und dann lässt sie sich schon mal zu einer Lokalrunde hinreißen. Lange wird sie ihren Job dort nicht behalten. Ein Grund mehr, sie noch einmal zu besuchen.
Als Fred die Sandkuhle verlässt, achtet er nicht auf die so sorgfältig beobachteten Spuren. Im Gegenteil. Mit geballter Aggression trampelt er auf dem Boden herum, bis die Grube das Aussehen eines Schlachtfeldes annimmt. Vermutlich annimmt, korrigiert sich Fred, denn sein Abgang findet lichtlos statt. Die Lampe bleibt aus. Ob er bei seinem Rückweg durch die Dünen dem alten Pfad folgt oder durch eine frischgepflanzte Schonung läuft und den empfindlichen jungen Gräsern die Triebe zertritt, ist ihm plötzlich ebenso egal wie der Verbleib des verschwundenen Mädchens. Um ihn kümmert sich ja schließlich auch niemand. Die Welt ist schlecht und erbarmungslos, da ist es nur gerecht, wenn auch andere das zu spüren bekommen.
Die fette Woge Weltschmerz erwischt ihn im denkbar ungünstigsten Moment. Alle Schutzdämme sind alkohol- und müdigkeitsbedingt außer Betrieb, so dass sogar die schmerzlichste und am besten verdrängte Erinnerung aus Fred Hübners goldenen Zeiten aufgespült wird.
Natürlich ging es um eine Frau.
Eine bestimmte Frau. Denn um der Wahrheit die Ehre zu geben, haben ihn die vielen willigen Blondinen am Strand nur halb so lange beschäftigt, wie er es sich seit etlichen Jahren einzureden versucht. Es tauchte nämlich schon nach dem zweiten Sommer voller Flirts und Affären eine Frau auf, die sein Herz in Besitz nahm, umstandslos und endgültig, wie er damals zu hoffen wagte. Sanne Boysen war ebenso blond und langbeinig wie ihre Vorgängerinnen, aber viel ernsthafter und gleichzeitig humorvoller als alle anderen.
Fred atmet tief durch. Klar kann er sich jetzt der Erinnerung an seine einzige große Liebe hingeben und sich in aller Ausführlichkeit vorstellen, wie es war, als Sanne ihn nach einem Jahre voller Glück aus heiterem Himmel und ohne eine einzige Erklärung verlassen hat, um einen Hamburger Schnösel zu heiraten, der zufällig ebenso wie sie selbst eine Handvoll Hotels von den Eltern erben würde.
Stopp.
Energisch verdrängt Fred jeden Gedanken an diese Zeit. Hastig eilt er durch die Dunkelheit, tritt mit Wucht und Wonne die jungen Pflanzen nieder und bemerkt den niedrigen Zaun, der das Naturschutzgebiet vom Weg trennt, erst, als er über ihn stolpert. Nur knapp kann er einen Sturz verhindern. Im Taumeln rutscht ihm die Taschenlampe aus der Hand und rollt auf den Weg. In ihrem Gefolge segelt noch ein zweiter Gegenstand zu Boden. Es ist die weiße Feder mit den Goldplättchen, die Fred ausgegraben und die ganze Zeit in der Hand gehalten hat. Der Impuls, sie wieder aufzuheben, ist stark, und er macht Fred unglaublich wütend. Die Feder im Sand liegen zu lassen, sie gewissermaßen in den Schmutz zu ziehen, wird plötzlich zu einer Ehrensache. Mit der Fußspitze schiebt Fred die Feder zwischen die Grasbüschel am Rand des Weges, dann scheffelt er ebenfalls mit dem Fuß so lange Sand darauf, bis die Feder darunter verschwunden und selbst im Licht des gerade aufgehenden Mondes nicht mehr zu erkennen ist.
Freitag, 24. Juli, 8.30 Uhr,
Braderuper Heide
Die Weste, die Handschuhe, die asphaltierte Straße, der Sandweg durch die Heide, die Treppe, die Bank mit Blick auf das Watthaus. Karoline lässt alles vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen und wird gleich ruhiger. Wenn sie nur wieder
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