Engel sterben
die frisch gegelten Haare. Immer wieder gehen ihm die drei Wochentage durch den Sinn. Mittwoch, Freitag, Samstag. Die Tage, an denen die Mädchen entführt worden sind. Heute ist Montag, und Sven kann sich nicht gegen den Gedanken wehren, dass wieder ein Mädchen fällig ist. Wie ein Tiger im Käfig rennt er durch sein Büro. Die Passivität, zu der er verdammt ist, macht ihn aggressiv. Aber er hat Bastian versprochen, hier die Stellung zu halten, nachdem Silja sich krankgemeldet hat. Außerdem muss endlich eine Entscheidung darüber gefällt werden, was mit den Phantombildern zu geschehen hat. Kann man es verantworten, alle neun Bilder zu veröffentlichen, die von den Hörnumer Parkplatzzeugen erstellt worden sind? Wird es dann nicht noch mehr Fälle wie den mit dem Berufszauberer Lothar Menek geben? Sein Alibi für den Samstag hat sich als absolut stichhaltig erwiesen und ist in allen Teilen von der Pensionswirtin bestätigt worden. Schon am frühen Morgen ist er entlassen worden.
Jetzt ist Fred Hübner ihr Hauptverdächtiger. Sven hofft inständig, dass Bastian mit dem Spurenspezialisten in Hübners Wohnung genügend Belastungsmaterial findet, das wenigstens diese Verhaftung im Nachhinein rechtfertigt. Denn wenn sich herumspricht, dass die Polizei schon zum zweiten Mal einen Unschuldigen verhaftet hat, dann gnade ihnen Gott. Wobei es gar nicht nötig ist, so hoch zu greifen.
Es reicht schon, sich vorzustellen, was die Presse mit ihnen anstellen würde.
Als es klopft, fährt Sven zusammen. Doch es ist nur der Kollege, der die Zeichnung hereinreicht, die gestern mit Anja erstellt worden ist. Die Zeichnung des Mannes, der ihr am Strönwai geholfen hat, Mette in der Rosenhecke zu entdecken. Die Zeichnung eines Zeugen, keines Verdächtigen. Kann man diesen Mann in der Öffentlichkeit suchen lassen, nur weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und vielleicht unbewusst etwas von der Entführung beobachtet hat? Bastian war dafür, das Wagnis einzugehen, aber Sven ist ziemlich sicher, dass ihnen das Ärger einbringen wird. Von Kompetenzüberschreitung wird die Rede sein, und wenn sie besonderes Pech haben, könnte sogar der gesuchte Zeuge sie wegen Eingriffs in seine Persönlichkeitsrechte verklagen. Denkt nicht jeder automatisch an einen Täter, wenn ein Phantombild durch die Presse und die Medien geht? Und wenn dann das Bild auch noch von der Ehefrau eines der Ermittler initiiert worden ist, wird ein solches Vorgehen besonders angreifbar.
Jetzt klopft es zum zweiten Mal. Diesmal ist Sven dankbar für die Störung, denn er spürt, wie seine Gedanken beginnen, sich im Kreis zu drehen. Doch als der eintretende Kollege anfängt zu reden, weicht die Erleichterung schnell einem ungläubigen Entsetzen.
»Wir haben eine neue Vermisstenmeldung.«
»Das darf nicht wahr sein!«
»Doch, leider. Beim Pförtner hat sich eine junge Frau gemeldet …«
»… deren Tochter verschwunden ist.«
»Nein, zum Glück nicht. Ihre Chefin ist heute früh nicht im Büro erschienen, und da dachte sie wohl, sie müsste zu uns kommen und sie suchen lassen.«
»Ihre Chefin. Wie alt ist die denn?«
»So um die dreißig.«
»Gott sei Dank, warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?«
»Aber Sie sind mir doch ins Wort gefallen.«
»Schon gut, es ist ja nichts passiert. Ich komme in zwei Minuten nach vorn und kümmere mich um die Sache. Sagen Sie der jungen Frau, sie soll sich noch einen Moment gedulden.«
Montag, 27. Juli, 10.17 Uhr,
Möwengrund, List
Neben Fred Hübners ungemachtem Bett befinden sich mehrere hüfthohe Bücher- und Zeitschriftenstapel. Gerade schüttelt Bastian Kreuzer einen leeren Umzugskarton vor seinem Körper aus. Heraus rieseln dicke Staubflocken und ein quadratischer Notizzettel, der an den Kanten stark vergilbt ist. Kreuzer bückt sich, hebt das Papierstück auf und wirft einen kurzen Blick darauf.
»Und?«
Leo Blum, der bisher vorsichtig den Inhalt des Badezimmerschrankes untersucht hat, steckt den Kopf durch die Türöffnung.
»Hast du da irgendwas Interessantes?«
»Glaub nicht. Nur verschimmelte Zeitungen und stinkende Taschenbücher. Und eine steinalte Notiz. ›Engelsstreben‹. Kann aber auch ›Eselssterben‹ heißen. Oder ›Elendsleben‹. Hat eine Sauklaue, dieser Hübner. Wenn er es überhaupt selbst geschrieben hat.«
»Lass mal sehen.«
Kreuzer geht zu Blum hinüber und hält ihm den Zettel vors Gesicht.
»›Engelsstreben‹, würde ich sagen. Aber der Wisch hat sicher zwanzig
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