Engel sterben
Gründen. Erstens muss ich Sie auffordern mitzukommen. Wir werden uns in den Räumen der Dienststelle noch ausführlich unterhalten. Und zweitens muss ich Sie darauf hinweisen, dass alles, was Sie jetzt noch sagen, gegen Sie verwendet werden kann.«
Montag, 27. Juli, 6.40 Uhr,
Alte Dorfstraße, Westerland
Silja rennt durch die Dünen, tritt die empfindlichen Gräser nieder, scheucht Vögel und Kleintiere auf. Atemlos hetzt sie diesem Schatten hinterher, dessen Silhouette breit und bullig direkt in die sinkende Sonne hineinzulaufen scheint. Längst weiß sie nicht mehr, wo und wann dieser ungleiche Wettkampf begonnen hat. Sie weiß auch nicht, ob sie die einzige Verfolgerin ist. Ihre verzweifelten Rufe verhallen in der Weite der Küstenlandschaft, eine Antwort kommt nicht. Nur die schwache Stimme ihrer kleinen Schwester Franziska, eine Stimme, die nie älter als elf Jahre geworden ist, schafft es ab und an bis zu Siljas Ohren.
»Hilf, Silli, hilf. Hilf, Papa, hilf. Hilf, Mama, hilf.«
»Wo bist du?«, will Silja rufen, aber es kommen nur Luftblasen aus ihrem Mund, sie sind bunt und schillernd wie Seifenblasen, und sie zerplatzen ebenso schnell im Wind. Verzweifelt stürzt sich Silja den letzten Hügel hinunter, direkt auf den Strand zu, der verlassen vor ihr im Licht der Abendsonne liegt. Verlassen bis auf die muskulöse Silhouette des Mannes, den sie verfolgt hat und der nun kurz vor der Wasserkante im Laufen innehält und sich mit einem Ruck zu Silja umdreht.
Sie muss blinzeln, um das Gesicht im Gegenlicht auszumachen. Und als es ihr endlich gelingt, wünscht sie nichts mehr, als dass die Silhouette im Meer verschwunden wäre, ohne sich zu erkennen zu geben. Denn es ist niemand anderes als der Kollege Bastian Kreuzer, der jetzt mit gefletschten Zähnen und einem Raubtiergrinsen auf sie zukommt.
Wie gelähmt klebt Silja an ihrem Platz unterhalb des Dünenkamms. Längst ist die Stimme der Schwester verstummt, und nur das regelmäßige Klatschen der Wellen bildet die Hintergrundmusik für die Frage, die sich zögernd von Siljas Lippen löst.
»Was hast du mit Franziska gemacht?«
Silja erwacht von ihrer eigenen Stimme, die röchelnd im Schlafzimmer verhallt. Ihr Körper ist schweißüberströmt. Ruckartig richtet sie sich in ihrem Bett auf, blinzelt ins Licht und schaut verwirrt um sich.
Nichts. Kein zweiter Körper liegt neben ihr, keine Männerklamotten sind im Raum verstreut.
»Bastian?«, ruft sie trotzdem vorsichtshalber mit lauter Stimme in die Wohnung hinaus.
Niemand antwortet. Und jetzt fällt es ihr auch wieder ein. Sie hat den Kollegen gestern Abend nicht mit nach Hause genommen. Die Erleichterung darüber führt unverzüglich zu einem zweiten Schweißausbruch. Silja erinnert sich nun sehr deutlich daran, dass sie während des nächtlichen Spazierganges in den Dünen immer wieder mit dem Gedanken gespielt hat, ihn zu fragen, ja, dass sie sich manchmal gar nicht auf die Unterhaltung konzentrieren konnte, weil sie ständig neue Sätze in ihrem Kopf erprobte, die Bastian Kreuzer einladen sollten.
Bei ihrem Abschied auf dem Parkplatz hat er sie lange in den Armen gehalten, aber als sie endlich den Mut fand, zu der entscheidenden Frage anzusetzen, hat er ihr sanft die Hand auf den Mund gelegt.
»Schlaf schön«, war alles, was er sagte, bevor er in sein Auto stieg, ohne sie auch nur zu küssen.
Mit wackligen Beinen verlässt Silja das Bett und wankt ins Bad. Aus dem Spiegel blickt ihr ein verzweifeltes Gesicht entgegen, in den Augen steht die Angst eines Kindes vor dem Vergewaltiger. Silja wendet sich ab, sie kann diesem Blick unmöglich standhalten. Und noch viel weniger wird sie einer Konfrontation mit Bastian Kreuzer gewachsen sein. Nicht nach dieser Nacht und diesem Traum.
Mit zitternder Hand greift Silja zum Telefon, um sich krankzumelden. Zum Glück meldet sich Sven. Auf seine irritierte Nachfrage, was sie genau habe, bleibt sie vage. Sie fühle sich fiebrig, und ihr sei schlecht, sie müsse dringend zum Arzt. Möglicherweise habe sie einen Virus, und sie wolle nicht die ganze Truppe anstecken.
Montag, 27. Juli, 9.05 Uhr,
Möwengrund, List
Bastian Kreuzer betätigt zum dritten Mal die hochglänzende Messingklingel des Lister Einfamilienhauses. Diesmal lässt er den Finger einfach auf dem Drücker. Während es im Inneren des Hauses vernehmlich schellt, versucht er, die Gedanken an Silja zu verdrängen. Vielleicht ist sie wirklich krank, vielleicht ist ihr das Essen nicht bekommen.
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