Engel sterben
existieren. Mindestens zwei jedenfalls. Nur weiß ich nicht genau, wo ich noch suchen soll. Ich könnte Ihnen aber einen nachmachen lassen und in den nächsten Tagen vorbeischicken. Ach, da ist noch etwas. Die Garage. Dort steht noch ein alter Daimler, den ich gern aufarbeiten lassen würde. Ich bringe also den Garagenschlüssel zu einer Werkstatt hier auf der Insel. Die holen dann das Auto und kümmern sich um alles. Das geht doch, oder?«
»Selbstverständlich. Wichtig ist erst einmal nur der Hausschlüssel. Und das Schriftliche. Können wir das vielleicht heute Abend erledigen. Gegen acht. Oder ist Ihnen das zu spät?«
»Morgen wäre mir lieber. Gegen Mittag vielleicht? Ich könnte bei Ihnen vorbeikommen.«
»Natürlich. Das geht in Ordnung.«
»Gut, dann haben wir ja alles.«
Markus Rother nickt der Maklerin kurz zu und geht dann mit schnellen Schritten durch den Korridor zurück zur Treppe. Seine Hände sind halb erhoben, als wollten sie etwas in der Luft Liegendes greifen, etwas nicht Sichtbares ertasten. Auf der Treppe strauchelt er, kann sich aber am Geländer festhalten.
»Es ist schwierig für mich, wissen Sie, dieses Haus nach so vielen Jahren wiederzusehen.«
Markus Rother wirft seine Worte über die Schulter, ohne sich darum zu kümmern, wo sie landen werden. Aber die Maklerin fängt sie geschickt auf.
»Ich verstehe. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich dann für die Reinigung sorgen.«
»Reinigung?«
»Der Sand. Wir müssen doch den Sand entfernen.«
»Ach ja. Der Sand. Das habe ich ganz vergessen. Aber Sie haben recht, der Sand muss natürlich weg.«
Mittwoch, 22. Juli, 19.07 Uhr,
Weststrand, List
Fred Hübner steht ganz oben auf einem Dünenkamm und blinzelt gegen die untergehende Sonne. Sein Blick gleitet über den Lister Strand, der kilometerlang ist, menschenleer und gesäumt von wildem Hafer. Und von Strandkörben, leider. Doch jetzt am Abend sind sie verwaist, eine Armee verlassener Muscheln aus Korbgeflecht, die sich von der Invasion erholt, die ein langer heißer Sommertag auf Sylt mit sich gebracht hat.
Fred bückt sich und zieht die Schuhe aus. Sein Körper gerät ins Schwanken, fast wäre er gefallen, dabei hat er erst einen einzigen Apéro gehabt. Oder waren es doch zwei? Fred erinnert sich nicht genau, vielleicht will er es auch gar nicht. Schließlich geht es niemanden etwas an, wie viel er trinkt. Nur seine Wirtin schüttelt manchmal bedenklich den Kopf, aber solange er die Miete für das notdürftig beheizbare Gartenhaus hinten auf ihrem Grundstück zahlt, wird sie nichts sagen. Als Fred vor fast zehn Jahren dort eingezogen ist, hat er das für eine Übergangslösung gehalten. Es war ein Unterschlupf, billig und peinlich, aber leider nötig bis zum nächsten großen Auftrag. Doch der Auftrag hat bis heute auf sich warten lassen, und das Gartenhaus ist darüber zu einer jämmerlichen Bruchbude verfallen.
Fred stolpert, die Schuhe in der Hand, die Dünenkante entlang. Wahllos tritt er auf Gräser und kriechende Gewächse. Der kürzeste Weg von seiner Hütte zum Strand führt nun mal quer durch das Naturschutzgebiet. Betreten strengstens verboten. Nur Schafe, Kaninchen und Vögel dürfen ungestraft die Gräser platttrampeln. Doch würde Fred tatsächlich die Straße zum Weststrand nehmen, müsste er erst nach Süden wandern bis ans Lister Ortsende, wo sie abzweigt. Ein Umweg von einer guten halben Stunde mindestens. Und überhaupt: Was kümmert ihn der ganze Naturschutz? Vor dreißig Jahren, am Anfang seiner ganz großen Zeit, da haben die Promis noch Orgien in den Dünen gefeiert, ohne dass irgendjemand sich um den blöden Hafer gesorgt hätte. Und Fred schon gar nicht. Denn er war immer dabei. Mittendrin. Und selten allein. Die Mädels haben sich ihm nur so an den Hals geworfen. Jede Schnecke konnte er haben. Er war erst fünfundzwanzig und ein echter Hengst. Im Bett ebenso wie an seiner Reiseschreibmaschine. Die großen Gazetten rissen sich um seine Berichte über das Leben der Schönen und Reichen hier auf der Insel.
Die Blondinen liefen ihm scharenweise nach, echte und gefärbte, sie alle hofften, in einer seiner Reportagen erwähnt zu werden, einmal nur, damit es schien, als gehörten sie auch dazu. Damit die Playboys, die wirklich reichen jungen Männer, endlich auf sie aufmerksam würden. Denn einen von ihnen wollte jedes dieser Mädchen an Land ziehen, er sollte es heiraten und ihm ein Leben voller Nichtstun und Wohlstand ermöglichen. Der Weg zu diesem
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