Engel sterben
nicht, dass das Mädchen weggelaufen ist. Die Kleine ist gerade mal sechs, und die Eltern haben in den vergangenen Stunden schon den ganzen Strand und die Dünen abgesucht.«
»Wo ist sie denn verschwunden?«
»In List, am Weststrand. Die Eltern sind Sommergäste, sie haben dort oben eine Ferienwohnung gemietet und waren tagsüber am Strand. Auf dem Rückweg zum Auto war dann das Kind plötzlich weg.«
»Wie lange ist das jetzt her?«
»Knapp drei Stunden. Jedenfalls haben am Strand schon alle mitgesucht, auch die Rettungsschwimmer. Den Kurkartenkontrolleur haben die Eltern auch schon befragt, er hat aber nichts gesehen.«
»Wie alt war das Mädchen noch mal?«
»Sechs Jahre.«
»So alt wie Mette.«
Sven sieht die eigene Tochter vor sich, fröhlich und mutig. War sie schon einmal mehrere Stunden lang von den Eltern entfernt, ohne dass Anja oder er gewusst hätten, wo sie sich aufhält? Natürlich nicht. Noch einmal fahren Svens feingliedrige Hände durch seine Locken, doch diesmal bringen sie die ganze Frisur durcheinander.
Silja beobachtet ihren Kollegen einige Sekunden lang. Sie kann zusehen, wie sich Winterbergs schmaler Körper strafft. Leise sagt sie: »Die Mutter ist vollkommen panisch, das kannst du sicher nachvollziehen. Also komm schon.«
»Okay. Los geht’s.«
An der Tür lässt Sven ihr höflich den Vortritt. Dann laufen beide mit schnellen Schritten den Gang entlang.
»Sind die Eltern wenigstens gleich zu uns gekommen? Nach ihrer eigenen vergeblichen Suchaktion, meine ich«, erkundigt sich der Oberkommissar.
»Leider nein. Sie sind zuerst zur Lister Polizeistation gefahren. Die Kollegen haben sie aber direkt hierhergeschickt.«
»Wie’s aussieht, sollten wir besser sofort einen Hubschrauber anfordern. Er kann die Dünen absuchen. Das ist ja ein riesiges Areal da oben. Und wenn es erst mal dunkel ist, nutzt das nichts mehr.«
»Außerdem muss einer die Mutter beruhigen. Sie ist völlig außer sich.«
Wie zur Bestätigung dieser Bemerkung dringt jetzt lautes Schluchzen zu ihnen. Silja wirft Sven einen knappen Blick zu. Sven bleibt stehen.
»Warte. Wir machen es anders. Geh du erst mal allein nach unten und gib der Frau ein Beruhigungsmittel. Der Ehemann ist auch dabei?«
Silja nickt.
»Dann soll er dafür sorgen, dass sie es auch schluckt. Danach bringst du beide zu mir hoch. Ich sehe in der Zwischenzeit zu, dass ich ein paar Leute zusammentrommele, die sich noch mal gründlich am Weststrand umsehen. Und zwar sofort. Vielleicht helfen die Kollegen von der Feuerwehr. Außerdem muss ich meiner Frau Bescheid sagen, dass sie die Kleine allein ins Bett bringen soll.«
Winterbergs letzte Worte kann Silja schon nicht mehr hören, so schnell ist sie die Treppe hinuntergeeilt. Das Schluchzen der Mutter geht ihr durch Mark und Bein, und es ruft Erinnerungen wach, die sie für immer verdrängt zu haben glaubte.
Ihre eigene Mutter mit gelösten Haaren, die Augen vom tagelangen Weinen fast zugequollen. Schluchzen, Schreien und dann immer wieder diese unerträgliche Stille. Eine Stille, in der der Film mit den Erinnerungen an die letzten Stunden mit der Kleinen ablief. Sie war das Nesthäkchen der Familie. Alle liebten Franziskas Lachen, und ihre Stimme hallte in jeder Ecke der behaglichen Wohnung nach. Der ganzen Familie schien es, als müsse der schöne schlanke perfekte kleine Körper der Elfjährigen in jedem Moment durch die nächste Tür gehüpft kommen.
Doch das sollte er niemals wieder tun. Denn auf die bangen Stunden der Suche nach dem Kind folgten bald die schrecklichen Stunden der Gewissheit. Franziska, Siljas kleine Schwester, die jüngste von vier Töchtern, würde niemals zurückkehren. Ihr Körper war missbraucht und geschändet worden, irgendjemand hatte sie benutzt, anschließend brutal erdrosselt und dann weggeworfen wie ein schmutziges Kleidungsstück.
Tränen treten in Silja Blancks Augen, und sie bleibt abrupt stehen. Mit einer energischen Geste zieht die Kommissarin ihren Rock glatt. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um diesen Eltern zu helfen. Aber sie wird sich nicht von ihren eigenen Erinnerungen einholen lassen, sie wird nicht zulassen, dass dieser Fall die Mauer einreißen kann, die sie mit viel Selbstbeherrschung und in jahrelanger Arbeit um ihre Seele errichtet hat.
»Ich bin gleich bei Ihnen«, ruft sie der schluchzenden Mutter zu, während sie den Tresen umrundet, eine Schublade aufzieht und zwei Beruhigungstabletten aus ihrer Folie drückt.
Donnerstag,
Weitere Kostenlose Bücher