Engel sterben
auf dem Weg vom Strandkorb zum Parkplatz. Man habe neben dem Auto auf sie gewartet, niemand sei begierig darauf gewesen, in der immer noch brennenden Nachmittagssonne die Dünen wieder hinaufzusteigen, um das Mädchen zur Eile anzutreiben. Als schließlich der Vater ziemlich aufgebracht doch noch zurückgestürmt sei, habe er erkennen müssen, dass seine Wut ins Leere laufen würde, denn Ann-Kathrin sei nicht zu finden gewesen. Seitdem sei sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. So der Vater, dem mittlerweile die Tränen in den Augen stehen.
Und während Fred mit leicht verlangsamter Diktion erklärt, dass ihm ganz bestimmt kein blondes Mädchen begegnet sei, dass er überhaupt niemanden gesehen habe und im Übrigen selbst auch erst seit zwei oder drei Minuten am Meer sei, denkt er, dass »wie vom Erdboden verschluckt« doch eine unglaublich abgegriffene Metapher ist. Unkonzentriert beobachtet Fred, wie der besorgte Vater von einer schlecht gefärbten Brünetten mit grauem Haaransatz weggezogen wird, deren Ehering sie als seine Gattin ausweist. Lautstark drängt sie ihn, endlich die Polizei einzuschalten. Auch in ihren Augen stehen Tränen.
Nachdenklich blickt Fred der aufgeregten Gruppe hinterher, bis alle in der Senke zwischen den Dünen verschwunden sind, in der sich der Parkplatz befindet. Ann-Kathrin, denkt Fred, ist ein blöder Name. Schlecht geeignet für jede Titelei. Überhaupt sind dreisilbige Namen furchtbar, sie hinken immer irgendwie. So ein richtig krachender Zweisilber, Nora oder Laura, Paula oder Clara, möglichst viele dunkle und klangvolle Vokale kombiniert mit wenigen prägnanten Konsonanten, das sind die Namen, aus denen wahre Schlagzeilen gemacht werden.
Mittwoch, 22. Juli, 19.50 Uhr,
Kriminalpolizei Westerland
Sven Winterberg fährt sich mit beiden Händen durchs Haar, das verschwitzt zwischen den Fingern klebt. Seufzend geht der Kriminaloberkommissar zum Waschbecken in der Ecke seines Dienstzimmers und hält die Hände unter den kalten Wasserstrahl. Kalt? Das Wasser ist lauwarm und nur mäßig erfrischend. Auch die Luft im Büro ist stickig und schwül, dabei steht schon seit Stunden das Fenster weit offen. Aber was soll an einem heißen windstillen Abend mitten in Westerland schon für Frischluft durchs Fenster kommen? Zwischen der Nordsee und dem Kripoquartier liegen etliche dichtbefahrene Straßen der Inselhauptstadt.
Enerviert sieht Winterberg auf seine Uhr. Kurz vor acht. Er wird es wieder nicht schaffen, rechtzeitig zu Hause zu sein, um Mette ins Bett zu bringen. Dabei ist die abendliche Gute-Nacht-Zeremonie mit seiner Tochter für Sven der Höhepunkt des Tages. Das kleine zerbrechliche Mädchen mit den großen zutraulichen Augen dabei zu beobachten, wie es langsam vom Wachsein in den Zustand des Traumes hinübergleitet, ist ein unvergleichliches Glück für den stolzen Vater.
Winterberg klatscht sich eine Handvoll lauwarmes Leitungswasser ins Gesicht. Wenn es schon nicht kalt ist, so ist es doch wenigstens feucht und suggeriert dadurch eine gewisse Erfrischung. Er wirft das Handtuch auf den Beckenrand und fährt sich noch einmal durchs Haar. Er ist nicht uneitel und sorgt penibel dafür, dass seine dunklen Locken stets akkurat geschnitten und perfekt gestylt sind.
Als der Oberkommissar Schritte auf dem Flur hört, geht er schnell zurück zum Schreibtisch. Wenige Sekunden später wird die Tür energisch geöffnet, und Winterbergs jüngere Kollegin Silja Blanck betritt den Raum. Sie wirkt stets auf ihn, als habe sie eben eine dreistündige Wellnesskur in einer Eisgrotte beendet. Schmale Figur, erstklassige Kleidung. Schwarzer Rock, weiße Bluse, alles ohne jeden Schweißfleck und vollkommen faltenlos. Dazu dunkelbraune glatte Haare, die wie immer zu einem dekorativen Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammengenommen sind. Der Duft von Silja Blancks Parfüm vertreibt augenblicklich den Benzingestank. Es ist herb mit einem Hauch von Orient.
Die Jungkommissarin spart sich jede Einleitung und kommt gleich zur Sache.
»Ich denke, die Kollegen unten brauchen deine Hilfe.«
Selbst Siljas Stimme ist erfrischend kühl.
»Was gibt’s denn da Besonderes?«
»Seit zehn Minuten versuchen sie am Empfang ein Elternpaar zu beruhigen, das seine Tochter sucht.«
»Schon wieder ein ausgebüchster Teenager. Können die nicht woanders weglaufen? Immer kriegen die ihre pubertären Hormonschübe ausgerechnet in den Sommerferien bei uns auf Sylt.«
»Es ist kein Teenager. Und ich glaube auch
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